Psychiaterin Meryam Schouler-Ocak

Die westliche Brille von der Nase nehmen

35:16 Minuten
Porträtaufnahme von Meryam Schouler-Ocak vor grau-neutralem Hintergrund.
In ihrem Beruf kümmert sich die Psychiaterin Meryam Schouler-Ocak insbesondere um Menschen mit migrantischen Erfahrungen. © Foto: privat
Moderation: Marco Schreyl |
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Meryam Schouler-Ocak sieht sich als Vermittlerin: An der Berliner Charité behandelt die Medizinerin Geflüchtete und Menschen mit Migrationshintergrund. Als junges Mädchen kam sie selbst aus der Türkei nach Deutschland.
Meryam Schouler-Ocak hat die Identitätssuche zwischen zwei Kulturen selbst erlebt, auch die Konflikte, die man durchlebt, wenn man sich Freiheiten erkämpfen muss. Vielleicht ist gerade das der Grund für ihr heutiges Fachgebiet: Die Psychiaterin ist leitende Oberärztin der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus in Berlin. Ihr Schwerpunkt: interkulturelle Psychotherapie.
Dass es einen großen Bedarf für dieses Fachgebiet gibt, merkte Schouler-Ocak kurz nach dem Medizinstudium. Während einer Station in der Psychiatrie in ihrer Facharztausbildung stellte sie fest, wie schwer es ihren deutschen Kolleginnen und Kollegen fiel, die Probleme von migrantischen Patientinnen und Patienten zu verstehen.
Der Hauptgrund dafür, so die Ärztin: fehlendes Wissen über den kulturellen Hintergrund der Menschen, die nach Rat suchen.

Emotionen lesen können

In ihrer Behandlung ist dieser Punkt heute für Schouler-Ocak zentral. Wer Menschen helfen wolle, die anders geprägt sind, müsse die Welt verstehen, aus der die Menschen kommen:
"Im Rahmen der Globalisierung, aber auch der Migrationsbewegungen, gehören mehr Menschen mit Migrationsgeschichte zu unseren Patienten. Wir wollen sie abholen, wo sie sind und ihnen therapeutische Möglichkeiten zur Verfügung stellen", sagt Schouler-Ocak.
Es gehe nicht immer darum, die gleiche Sprache zu sprechen. Viel wichtiger sei es, die Emotionen richtig lesen zu können. Therapeutinnen und Therapeuten müssten ihre westliche Brille abnehmen, um Menschen therapieren zu können, die in einer anderen Kultur sozialisiert wurden.

Auf keinen Fall ans Fließband

Als Meryam Schouler-Ocak 1970 mit ihrer Familie aus der Türkei nach Deutschland kam und in Duisburg eingeschult wurde, waren die einzigen deutschen Wörter, die sie sprechen konnte "ja" und "nein". Trotzdem funktionierte die Integration in das neue Land schnell. Schouler-Ocak schrieb gute Noten, war wissbegierig, wollte aufs Gymnasium und Abitur machen.
Die Ziele der Tochter unterschieden sich damals stark vom Leben ihrer konservativen Eltern. Beide arbeiteten hart: der Vater in der Stahlindustrie, die Mutter am Fließband in einer Fabrik. Dieses Leben wollte Meryam Schouler-Ocak auf keinen Fall für sich selbst:
"Ich wollte nicht so arbeiten wie meine Mutter. Sie war nie da, wir sind allein aufgestanden, zur Schule gegangen. Auch beim Hausaufgaben machen war niemand dabei."

Ihre Wissbegierde war dem Vater unbegreiflich

So ganz verstanden ihre Eltern nicht, warum ihr Kind so gern in die Schule geht, so viele Bücher liest, so engagiert ist, so zielstrebig. Für ihren Vater war klar: Meine Tochter heiratet, dann ist sie versorgt. Akademische Laufbahn, ein interessanter Job? Das war für ihren Vater kein Ziel, das eine junge Frau haben sollte.
Doch Schouler-Ocak wollte das nicht akzeptieren, stritt mit ihrer Familie und setzte sich letztendlich durch. Sie fing an, Medizin zu studieren. Die Wahl dieses Fachs besänftigte dann auch ihren Vater.

Ihr Beruf ist ihr Herzensangelegenheit

Heute gehören zu den Patientinnen und Patienten von Schouler-Ocak Migranten oder Menschen mit Fluchterfahrungen, die psychisch erkrankt sind. Ihnen bei der Ankunft in ihrem neuen Leben zu helfen, aber auch die teilweise traumatischen Erlebnisse ihrer Vergangenheit zu bewältigen, ist für Schouler-Ocak nicht nur Forschungsgebiet, sondern Herzensangelegenheit.
(hns)
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