Zwischen Glaube und Wahn
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Psychische Störungen sind oft von religiösen Zwangsvorstellungen begleitet, sagt der Psychiater, Psychotherapeut und Religionswissenschaftler Peter Kaiser. Doch Religion könne auch heilsame Kräfte entfalten. (*)
Ralf Bei der Kellen: Bei der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie gibt es ein Fachreferat "Religiosität und Spiritualität". Eines ihrer Mitglieder ist Peter Kaiser, Professor für Religionswissenschaften an der Universität Bremen sowie ärztlicher Leiter des Ambulatoriums für Folter- und Kriegsopfer des Schweizer Roten Kreuzes in Bern. Er hat sich viel mit der Rolle der Religion bei psychischen Erkrankungen beschäftigt. Ich konnte ihn kurz vor seinem Abflug nach Beirut telefonisch interviewen und wollte zunächst von ihm wissen, wann man von religiösem Wahn als psychischer Störung spricht.
Peter Kaiser: Als ich begonnen habe, mich mit dem Thema zu beschäftigen, war das eigentlich gar kein Thema, bis auf einige Autoren aus den 1960er-Jahren und Professor Spitzer aus Ulm, der sich mit dem Thema auch sehr differenziert auseinandergesetzt hat. Wir sind sehr vorsichtig mit dem Ausdruck "Wahn", denn der ist klar definiert, und bei Religion können wir diese klare Definition nicht einhalten.
Drei Kriterien für religiösen Wahn
Einfach gesagt geht das auf Karl Jaspers zurück, den Philosophen und Psychiater. Er hat gesagt, Wahn bestehe dann, wenn jemand sich subjektiv ganz sicher sei. Also, das Kennzeichen sei die subjektive Gewissheit. Bei Religion, klar: Die Leute glauben mit einer Glaubensgewissheit, sonst wäre es ja fast eher Zweifel.
Das zweite Kriterium ist die Unkorrigierbarkeit durch Erfahrung. Wenn ich also sage: "Katzen können fliegen", dann zeigt mir die Erfahrung, es ist eigentlich nicht so, und wenn ich weiterhin darauf beharre, dann würde das bei meiner sozialen Umgebung als etwas Seltsames gesehen werden. Kriterium Nummer drei: Das, was geglaubt wird, ist unmöglich. Und diese drei Kriterien können wir regelmäßig auf religiöse Inhalte anwenden.
Jetzt könnten wir sagen, alle Leute, die diese drei Kriterien erfüllen im religiösen Kontext, sind damit wahnsinnig oder leiden unter einem Wahn. Aber das kann man nicht sagen, denn, böse gesagt: Religion hat von der Wahrnehmung her ganz viel mit Subjektivität zu tun. Soweit wir wissen, ist noch keiner wirklich aus dem Jenseits zurückgekehrt ,– wenn wir jetzt Jesus mal für die Gläubigen aussparen –, und könnte sagen, wie es drüben ist.
Die Grenze ist dort, wo Menschen unter ihrem Glauben leiden
Es ist ganz schwierig, und daher würden wir die Grenze zu religiösem Wahn dort ziehen, wo jemand unter dieser Vorstellung leidet. Eine positive Gottesvorstellung: Ich komme in den Himmel und sitze dann da später im Paradies, dagegen würde niemand etwas haben, auch wenn diese Vorstellung für Atheisten eigentlich komplett falsch ist. Aber wenn jetzt jemand denkt, er ist verflucht, und ihm passiert etwas Schlimmes, oder noch schlimmer: Er wird vom Satan aufgefordert, jemand anders zu töten, dann hat das natürlich einen Impact, dann hat es eine Einwirkung auf Mitmenschen, und dann würde man intervenieren. Religiöser Wahn ist eher von dem Aspekt her bestimmt: Ist es für den Einzelnen oder seine soziale Umgebung schädlich?
Bei der Kellen: Wie verbreitet ist denn dieses Phänomen? Ich habe gelesen, dass ein Drittel aller Menschen mit Extrempsychosen auch religiöse Fantasien entwickeln. Ist das also in der klinischen Psychologie ein gängiges Krankheitsbild?
Kaiser: Ich würde sagen, es wird häufig nicht nachgefragt. Ich sage zu meinen Assistenten immer, fragt nach: Was glauben die Menschen? Was für Vorstellungen haben sie, weshalb ihnen irgendetwas geschieht? Wie wird kausal attribuiert: Weshalb passiert mir das, nicht dem Nachbarn? Das wird häufig religiös erklärt. Meistens wird aber nicht danach gefragt. Es hängt ein bisschen mit der Ausbildung zusammen: Psychologen sind naturwissenschaftlich ausgebildet, da spielt Religion bis dato kaum eine Rolle, und bei den Ärzten und Psychiatern ist es ähnlich.
Wahnvorstellungen speisen sich aus dem kulturellen Umfeld
Das mit dem einen Drittel, das kann ich so nicht bestätigen. Da gibt es verlässliche größere Zahlen. Allerdings ist es natürlich so: Wenn jemand unter psychotischen Vorstellungen leidet – das heißt, die Ich-Grenze: Wo bin ich und wo werde ich beeinflusst, das verschiebt sich dann –, dass da religiöse Vorstellungen mit reinkommen, ist vollkommen klar, weil Religion Teil unserer Kultur ist.
Wir werden, auch wenn wir es nicht wollen, irgendwie religiös sozialisiert. Selbst wenn ich Atheist bin, lebe ich vielleicht in einem Dorf, wo es eine Kirche gibt, da gibt es halt die Kirchenglocken. Ich komme da gar nicht dran vorbei, auch wenn ich es für mich ablehne. Und je mehr ich mich damit beschäftige, desto mehr kommt die Religion sozusagen in meine Gedanken rein. Es ist vollkommen klar: Wahngedanken, Wahnvorstellungen, die schöpfen aus dem, was der Einzelne macht. Aber das kann auch Atheisten passieren.
Fehlt die Familie, kann der Glaube stützen
Bei der Kellen: Aus dem, was Sie gesagt haben, höre ich ein bisschen raus, dass Sie der Meinung sind, es müsste bei Psychologen und Psychiatern eigentlich eine größere Sensibilität für dieses Phänomen geben, oder?
Kaiser: Definitiv, aber nicht in der Richtung, wie Sie jetzt vielleicht denken, bezüglich der Frage: Könnte Religion schädlich sein? Religion kann schädlich sein, das wissen wir. Mir geht es eher darum, dass Religion für Menschen eben auch eine Ressource sein kann. Ich arbeite hier in einem Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer, und wenn ich da nicht nachfrage, gibt es etwas, das Ihnen helfen kann, bei dem Schicksal, das Sie getroffen hat – Flucht von zu Hause, dort vielleicht gefoltert worden, ein schlimmer Fluchtweg bis hier nach Europa –, wenn da keine Ressourcen da sind, dann ist es schwierig.
Die Ressourcen können die Familie sein, die ist vielleicht verloren gegangen, und dann kann es noch der Glaube sein. Dann kann es sein, dass der Glaube sehr positiv konnotiert ist, dass das, was mir passiert ist, beispielsweise als Prüfung wahrgenommen wird, nicht als Strafe. Besser wäre es zu sagen: Okay, Gott prüft mich, ich weiß nicht, warum, aber es wird schon gut gehen. Das kann eine Ressource sein. Gehen Sie mal auf eine Hospizstation oder zu Menschen, die an Tumoren leiden, an Krebs leiden und vielleicht dem Tod näher sind, als sie es bis vor Kurzem noch dachten zu sein, und fragen Sie da nach. Da kann Religion wirklich eine große Ressource sein.
Spirituelle Schuldkomplexe
Bei der Kellen: Was ist denn die religiöse Wahnvorstellung, ganz weit gefasst, die Ihnen in der Praxis am häufigsten begegnet ist?
Kaiser: Ich habe bisher meistens in einem protestantischen Umfeld praktiziert. Dort ist am häufigsten das Gefühl "ich werde bestraft", also nicht ein gutes Gottesbild, sondern eher ein negatives. Wenn man das mehrmals bekommt als Therapeut, dann denkt man: Religion ist schädlich. Aber damit wäre wirklich das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.
Das ist die Hauptvorstellung: Etwas ist passiert oder etwas könnte passieren, und das hängt damit zusammen, dass ich in meiner Kindheit, in meiner Jugend einen Fehler gemacht habe. Und wenn man über diese Fehler spricht, die sind hoch tabuisiert und stellen sich dann für den Zuhörer im Endeffekt als Lappalien heraus. Für den Betroffenen sind sie aber lebensbestimmend und denkbestimmend. Er wacht morgens auf und denkt im Sinne einer Selffulfilling Prophecy: Was passiert mir heute wieder, dass ich bestraft werde?
Bevor die Medizin eingreift, den Pfarrer konsultieren
Diese Leute erlegen sich dann auch manchmal eigene Strafen auf, was sie alles machen müssen, um sozusagen ihre Schuld abzuarbeiten. Und das sind ganz klare Punkte. Da würde ich dann als Erstes den Krankenhausseelsorger involvieren. Und wenn der sagt, okay, diese Vorstellung ist schwierig, und wir kommen da nicht weiter – also, wie ich vorher schon gesagt habe: Wahn hat etwas mit subjektiver Gewissheit zu tun. Da lässt sich dann jemand auch nicht in seiner Einstellung relativieren, nach dem Motto: Ein bisschen Fehler machen wir alle. Dann ist der ganz strikt der Meinung, er hat was Falsches gemacht.
Da würde dann die Medizin zur Geltung kommen, mit dem Problem, dass ein Wahn sehr schwer zu beeinflussen ist, wenn ich jetzt einen isolierten Wahn habe, also denke, das und das ist auch aus dem religiösen Kontext. Wir behandeln ja mit unseren Medikamenten eigentlich eine "Gitterstörung", wie wir es manchmal nennen. Das heißt, unser Filter, der das filtert, was wir als Wahrnehmung mit unseren Gehirnarealen aufnehmen und dann weiterverarbeiten – seien es Seh-, Hör- oder sonstige Reize –, dieser Filter ist gestört.
Und das Zweite ist, dass eben eigene Gedanken entstehen und nicht mehr abgestellt werden können, dass ich sozusagen unter mir selbst, unter meiner eigenen Gedankenproduktion leide. Dazu gibt es Medikamente, aber die stellen nicht nur das religiöse Denken ab, sondern alles Denken, wenn sie hoch genug dosiert sind. Und das möchte man ja nicht. Man möchte, dass derjenige nicht mehr leidet, aber trotzdem als normales Mitglied der Gesellschaft agieren kann.
Parallelen von Hexenwahn und Covid-Verschwörungsmythen
Bei der Kellen: Dann kommen wir noch kurz zu etwas anderem. Es geht ja in letzter Zeit viel um Verschwörungserzählungen oder Verschwörungsmythen. Könnte man auch sagen, dass das absolute Anhängen an Verschwörungserzählungen Parallelen zum religiösen Wahn aufweist? Ich habe einen Menschen erlebt, der sich da so hineinsteigert, dass er überhaupt nicht mehr für andere Argumente zugänglich ist, und es ist auch schon so weit gekommen, dass man sich im Freundeskreis Gedanken macht, wie gut das für seine neunjährige Tochter ist.
Kaiser: Ich kann das sofort unterschreiben. Ich kenne Bekannte, wo ich sagen würde, eine Korrekturfähigkeit liegt momentan, bezüglich Covid-19, nicht vor. Das sind oftmals sehr intelligente, im allgemeinen differenzierte Menschen. Das ist also nicht jemand, der oder die etwas nachplappert, sondern sich wahrscheinlich den ganzen Tag mit Theorien dieser Art auseinandersetzt – das sind eher Hypothesen – und sie zunehmend schlüssig findet.
Man sucht natürlich das, was man finden möchte. Man sucht im Netz immer etwas, das die bisherige Meinung noch mehr unterstützt und stärkt. Ich bin Religionswissenschaftler an der Universität in Bremen, und mein Seminar im Herbst geht genau darum. Ich ziehe einen Vergleich zwischen dem Hexenwahn in der frühen Neuzeit und im späten Mittelalter und den aktuellen Verschwörungstheorien bezüglich Covid.
Meinungsstreit muss möglich bleiben
Ich meine, es gab Zeiten, wo die katholische Kirche mit Andersgläubigen, sprich Leuten, die Ideen hatten wie "die Erde ist eine Kugel", wenig zimperlich umgegangen ist, weil es entweder Machtpolitik war oder man sich das andere nicht vorstellen konnte. Daher ist es ganz wichtig – das ist ein Zeichen der Demokratie –, dass man unterschiedliche Meinungen zulässt, und dann lässt sich auch so ein Verschwörungsglaube, eine Verschwörungstheorie relativ leicht zerlegen.
Das geht aber nur, wenn entsprechende Meinungsbildung möglich ist. Wenn es staatlich angeordnet ist zu sagen, Covid kommt ganz klar aus der Türkei, aus China oder aus den USA, dann wird es eng. Dann wird sich irgendwann nämlich auch keiner mehr getrauen, etwas dagegen zu sagen, selbst wenn man weiß, dass das so nicht stimmt.
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Redaktioneller Hinweis: Wir haben die Berufsbezeichnungen konkretisiert.