"Universelle Prävention gibt es eigentlich wenig"
"Manchmal ein halbes Jahr" - das ist unter Umständen die Prognose für die Wartezeit auf einen Therapieplatz, sagt Iris Hauth, designierte Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie. Für Deutschlands Therapeuten sei es oft schwer, Behandlungsanspruch und Kostendruck zu vereinbaren.
Liane von Billerbeck: Depressionen, Burnout, Angststörungen - sind wir eine Gesellschaft, die psychisch immer kränker wird, oder ertragen wir seelische Abweichungen viel weniger, oder wissen wir einfach inzwischen auch viel mehr als früher und sind auch offener, dass wir uns schneller professionell helfen lassen? Und auch das: Lässt sich eigentlich präventiv etwas tun, um psychische Krankheiten zu vermeiden? Viele, viele Fragen. "Von der Therapie zur Prävention" heißt das Motto der Jahrestagung der Psychiater und Psychotherapeuten, die sich heute in Berlin versammeln. Mit dabei ist auch Doktor Iris Hauth, die ärztliche Direktorin des Berliner St.-Josef-Krankenhauses. Und sie ist designierte Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie und, ganz nebenbei, die erste Frau in dieser Position seit 150 Jahren. Herzlich willkommen!
Iris Hauth: Guten Morgen!
von Billerbeck: Psychische Krankheiten scheinen sich immer mehr auszubreiten. Wie lautet denn Ihre Diagnose? Sind wir kränker als früher?
Hauth: Das ist auch nicht richtig, dass sie sich immer mehr ausbreiten. Der jüngste Robert-Koch-Institut-Gesundheits-Survey, der also Deutschland untersucht hat, sagt: Es ist in den letzten zehn Jahren nicht mehr geworden, sondern, so wie Sie es vorhin erwähnt haben: 30 Prozent der Menschen in Deutschland haben im Jahr einmal eine psychische Diagnose, wobei dann natürlich auch leichtere Störungen dabei sind wie Schlafstörungen oder leichte Depressionen und Angststörungen. Aber es ist eigentlich nicht mehr geworden.
von Billerbeck: Wo liegen denn die Gründe dafür, dass trotzdem ein Drittel der Menschen solche Erkrankungen haben oder solche Diagnosen bekommen?
Hauth: Es ist sicher so, dass genauer hingeschaut wird. Hausärzte, wir haben 12.000 Psychiater in Deutschland, wir haben 30.000 psychologische Psychotherapeuten, dass sicher genauer geschaut wird, diagnostiziert wird, aber auch, dass die Menschen sich eher trauen zu sagen: Ich habe eine Depression. Früher gingen sie zum Hausarzt und klagten eher über körperliche Beschwerden, und da sind die Medien sicher auch im Positiven verantwortlich dafür, durch viele Berichte. Miriam Meckel oder [Sebastian] Deisler, also Prominente, die sich geoutet haben, sind viele ermutigt zu sagen, ja, mir geht es auch psychisch schlecht.
von Billerbeck: Trotzdem lautet ja offenbar auch die Gleichung: Wo viele Psychiater, da auch viele Diagnosen.
Hauth: Na ja, so überversorgt sind wir in Deutschland noch nicht. Berlin ist sicher gut versorgt, aber es gibt natürlich auch viele Landstriche, wo es wenig Nervenärzte, wenig Psychiater gibt. Aber ich denke, es ist so, dass die Menschen natürlich mehr Stress heute ausgesetzt sind, als das noch vor 30, 40 Jahren war. Also Vereinsamung, Arbeitslosigkeit, Reizüberflutung, Multitasking. Gerade am Arbeitsplatz ist der Stress deutlich höher geworden und von daher natürlich auch die Anfälligkeit sich verstärkt hat.
von Billerbeck: Gilt das auch für Kinder? Ich hab gerade gelesen - Sie sagen, die psychischen Erkrankungen sind nicht mehr geworden - trotzdem hört man ja immer, dass gerade Kinder sehr oft als auffällig diagnostiziert werden. Jedes fünfte Kind hätte psychische Probleme, heißt es. Ist das so?
Hauth: Ja, also von der Statistik her ist das so. Wenn Sie den Hintergrund erfragen, würde ich jetzt sagen: Es ist natürlich so, dass heute auch Eltern sehr vorsichtig mit ihren Kindern sind, das Beste für ihre Kinder wollen. Oft natürlich auch Kinder haben, die leistungsfähig sind. Gerade dieses Problem mit ADHS wird ja deswegen auch oft oder sehr schnell diagnostizier.
von Billerbeck: Zu schnell?
Hauth: Ich bin keine Kinder- und Jugendpsychiaterin, deswegen würde ich mich da einer Stimme enthalten. Aber die Kritik geht in die Richtung, dass in der Schule eben auffällige Kinder - früher wurde das ausgesessen und man hat gesagt: Das wächst sich aus. Und heute im Sinne des "Man will alles Gute fürs Kind tun", wird natürlich schnell dann ein Psychiater oder Psychotherapeut dazu gezogen.
von Billerbeck: Heißt das auch, wir ertragen die Abweichung weniger? Also nicht bloß bei Kindern, sondern auch überhaupt bei anderen Menschen? Müssen wir normierter sein und gehen auch deshalb zu Ihren Kollegen?
Hauth: Ja, ich würde sagen, der Leistungsdruck, zu funktionieren, seine Arbeit gut zu schaffen, in der Freizeit möglichst viel zu machen, also, dieser Druck ist sicher höher geworden.
von Billerbeck: Und das führt auch zu mehr Besuchen beim Psychiater?
Hauth: Möglicherweise, ja.
von Billerbeck: Sehr vorsichtig. Manch einer ihrer Kollegen bemängelt ja inzwischen auch die Inflation psychiatrischer Diagnosen, wie der amerikanische Psychiatrieprofessor Allen Frances. Da ging es um das berühmte Diagnosehandbuch DSM, das aus den USA kommt und dass zum Beispiel ein Trauernder nach zwei, drei Wochen wieder funktionieren soll wie vorher. Früher wurde da eine Depression diagnostiziert, es gab das Trauerjahr, erinnern wir uns noch dran. Darf ein Mensch heute nicht mehr so lange trauern, wie er das braucht, wenn er einen Freund verliert?
Hauth: Das ist sicher ein wichtiges Thema, abzugrenzen, was ist wirklich psychische Erkrankung. Wir in Deutschland oder international haben dieses ICD-10 als Diagnosemanual. Das ist nicht so eng gesteckt wie das neue DSM-5, und es ist sicher richtig, zu unterscheiden, was sind wirklich schwere psychische Erkrankungen, die auch unbedingt Hilfe brauchen, und was sind Befindlichkeitsstörungen. Und wir haben das Thema auch auf dem Kongress. Allen Frances ist auch da, wir werden das diskutieren. Und wir sehen da auch eine Gefahr, dass eben an der Stelle überdiagnostiziert wird und dass normales menschliches Empfinden, Befindlichkeitsstörung dann zu schnell gelabelt wird.
von Billerbeck: Und das heißt, dass die Leute, die wirklich Hilfe brauchen, dann die Hilfe nicht mehr bekommen?
Hauth: Das ist ein wichtiges Thema, ja. Dass zum Teil auch die Psychotherapieplätze besetzt sind von Menschen, die ja vielleicht auch in früherer Zeit das mithilfe von Freunden, von Familie geschafft hätten. Aber das sind natürlich auch Dinge, die heute oft nicht mehr vorhanden sind bei unserem Singleleben.
von Billerbeck: Und das muss die Psychotherapie dann ausgleichen?
Hauth: Wenn man das kritisch sieht, ist das sicher in manchen Fällen so, ja.
von Billerbeck: Nun gibt es einen großen Kostendruck im Gesundheitswesen, der geht ganz sicher auch an Ihrem Fachgebiet nicht vorbei. Wie wird damit umgegangen? Es gibt ja immer wieder die Kritik, dass viel mehr Psychopharmaka eingesetzt werden, weil es zu wenig Plätze in der Therapie gibt.
Hauth: Also, nach Leitlinien ist es bei bestimmten Erkrankungen, zum Beispiel bei einer schweren Depression, auch sinnvoll, Psychopharmaka einzusetzen. Aber sicher, im Warten auf einen Therapieplatz, und das ist heute in Deutschland auch immer noch, trotz vieler Psychotherapeuten, manchmal ein halbes Jahr, wird dann zunächst mediziert, was auch hilfreich sein kann. Aber wichtig ist, dass dann natürlich auch eine evidenzbasierte Psychotherapie erfolgt, die dann längerfristig auch hilft, uns, sagen wir mal, auch zu neuen Bewältigungsstrategien führt. Und die Medikamente dann natürlich auch wieder abgesetzt werden.
von Billerbeck: Gibt es einen Druck seitens der Krankenkassen und auch seitens der Pharmaindustrie?
Hauth: Seitens der Pharmaindustrie weniger. Natürlich wollen die Krankenkassen, dass die Patienten relativ schnell behandelt werden ...
von Billerbeck: Das ist aber gerade bei psychischen Erkrankungen oft nicht der Fall!
Hauth: Ja. Und das ist auch ein Thema, was wir auch auf dem Kongress haben, gerade auch im stationären Bereich, da gibt es ein neues Entgeltsystem, was auch diesen Anreiz schaffen soll, schneller zu behandeln, Menschen schneller wieder zu entlassen. Das ist sicher bei psychischen Erkrankungen sehr schwierig, denn psychische Erkrankungen brauchen Zeit. Menschen müssen erkennen, wo ihre Probleme liegen, müssen Veränderungen einleiten, und das kann man nicht - man kann nicht schneller sprechen als Therapeutin und die Patienten können es natürlich auch nicht schneller verstehen. Also, Zeit ist sicher ein wichtiger Wirkfaktor.
von Billerbeck: Nun heißt ja das Motto Ihres Kongresses "Von der Therapie zur Prävention". Was lässt sich denn tun, damit man Sie möglichst nicht benötigt? Also, der Einzelne oder auch in der Gesellschaft?
Hauth: Eine generelle, universelle Prävention gibt es eigentlich wenig, gibt es wenig Studien drüber außer den Dingen, die man sowieso weiß: genügend schlafen, dreimal in der Woche Sport machen, möglichst nicht rauchen, gute Live-Work-Balance mit auch Freizeit zu haben. Aber es gibt da nichts, was man generell sagen kann außer eben gesund leben im Allgemeinen. Aber es ist natürlich so, dass, wenn, sagen wir mal, erste Befindlichkeitsstörungen auftreten, also zum Beispiel längere Zeit Schlaflosigkeit da ist, Konzentrationsstörungen auftreten, die Stimmung über längere Zeit schlecht ist, oder wenn so ansatzweise Veränderung im Befinden da ist, dann sollte man natürlich gezielter Prävention machen mit entsprechenden Achtsamkeitsübungen, mit Entspannungsübungen, also sich auch beraten lassen. Es gibt ja da auch eine ganze Menge an Beratung mittlerweile, Zeitcoaching, solche Dinge zu tun, um da achtsamer mit sich und seiner Psyche umzugehen. Und wenn dann wirklich längere Zeit solche Störungen wie Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen, Antriebsstörungen, depressive sind, dann sollte man auch rechtzeitig sich Hilfe holen. Die muss dann manchmal gar nicht so ausgedehnt sein, aber bevor dann eine echte psychische Erkrankung entsteht.
von Billerbeck: Nun haben Sie es vorhin auch schon in so einem Nebensatz erwähnt, dass wir ja alle in einem Arbeitsumfeld tätig sind, das sehr stressig ist. Wir sind vielen Medien ausgesetzt, müssen also multitaskingfähig sein, machen viele Dinge parallel. Was kann man denn tun, um sich dem ein bisschen zu entziehen in der modernen Welt. Das werden Sie ja mit vielen Patienten auch erleben?
Hauth: Das ist ja das Thema Burnout, was auch jetzt immer durch alle Medien geht. Sicher ist wichtig, dort für sich selber einen Rhythmus zu finden, also einen Rhythmus zwischen Anspannung, Arbeit, was Spannendes tun, aber auch Entspannung. Das Wort "Muße" ist ja heute sehr unmodern geworden, aber solche Zeiten der Muße sich auch in den Alltag einzutakten, Zeiten, wo man eben nichts tut, wo man einfach entspannt - viele machen ja auch in der Freizeit dann noch Thema und entsprechend viele Termine. Und es ist auch sicher wichtig, darauf zu achten, dass man genügend soziale Kontakte hat, dass man Freunde hat, dass man im Austausch ist, dass man emotional auch irgendwo angebunden ist und sich wohlfühlt. Und letztlich natürlich auch Sinngebung. Dass man in seinem Privatleben, aber auch im Beruf das Gefühl hat: Das, was ich tue, ist richtig für mich, und ich tu das gerne und das gibt meinem Leben auch Sinn.
von Billerbeck: Dr. Iris Hauth war das, die designierte Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, die erste Frau seit 150 Jahren in diesem Amt. Der Kongress der Deutschen Gesellschaft beginnt heute in Berlin unter dem Motto "Von der Therapie zur Prävention". Danke Ihnen fürs Kommen. Und es gibt noch eine Veranstaltung für die Öffentlichkeit, haben Sie mir noch erzählt: Samstag, 12 Uhr, und da geht es um die Prävention psychischer Erkrankungen.
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