"Es trauen sich mehr Menschen, zum Arzt zu gehen"
In Deutschland war 2014 jeder 20. Arbeitnehmer wegen einer psychischen Erkrankung krankgeschrieben. Immer mehr Menschen seien bereit, sich mit Depressionen oder Angststörungen zu outen, sagt Ines Hauth, die Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde.
Hans-Joachim Wiese: Die Krankenkasse DAK hat heute ihren Psychoreport vorgelegt, der nach der Auswertung der Krankschreibungen 2014 entstanden ist. Dessen Fazit:
"Die psychischen Erkrankungen haben sich von Platz 4 auf Platz 2 nach oben gearbeitet und gewinnen nach und nach immer mehr Bedeutung im Arbeitsunfähigkeitsgeschehen."
Hans-Joachim Wiese: ... sagt Susanne Hildebrandt vom IGES-Institut, das die Studie für die DAK erstellt hat. Iris Hauth ist Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde und Ärztliche Direktorin am St. Joseph-Krankenhaus Berlin. Guten Abend! Zwei Millionen Krankschreibungen, jeder 20. Arbeitnehmer – das ist ein neuer Höchststand. Warum so viele Fälle?
Iris Hauth: Die Erkrankungsrate insgesamt hat in den letzten zehn Jahren eigentlich nicht zugenommen. Das Robert-Koch-Institut hat vor zwei Jahre ja eine repräsentative Studie in Deutschland gemacht, und da sind die Zahlen gleich. Aber: Es trauen sich mehr Menschen offensichtlich, zum Hausarzt, zum Facharzt zu gehen und zu sagen: ich habe depressive Verstimmungen, ich habe Angststörungen. Und das zeigt ja auch die Studie, dass die Rückenleiden zurückgegangen sind, also vor einigen Jahren ist man dann eher mit körperlichen Beschwerden hingegangen und heute traut man sich eher, das zu sagen. Das ist eigentlich eine gute Entwicklung. Und auch die Hausärzte, die Ärzte in der Versorgung sind sensibilisierter für das Thema und stellen auch klarer die Diagnosen. (...)
Hans-Joachim Wiese: Wer psychisch erkrankt, braucht oft Hilfe. Aber er wartet bekanntlich sehr lange auf einen Therapieplatz, im Schnitt sechs Monate. Hat sich das eigentlich gebessert oder durch die schiere Zahl der Patienten verschlechtert?
Iris Hauth: Wir haben zirka 20.000 ärztliche und psychologische Psychotherapeuten und 5000 niedergelassene Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie. Aber in der Tat ist es so, dass bei allen lange Wartezeiten sind. Und wenn noch mehr Menschen ermutigt werden, sich zu outen und die Diagnosen gestellt werden, wird das wahrscheinlich noch dramatischer. (...) Grundsätzlich meinen wir von der Fachgesellschaft, dass insgesamt das besser gesteuert werden müsste. Nicht jeder braucht 50 Stunden Therapie, manchmal reicht schon eine Krisenintervention.