Wolfgang Schmidbauer, "Raubbau an der Seele. Psychogramm einer überforderten Gesellschaft"
oekom Verlag, 2017, 256 Seiten, 22 Euro
"Nicht leistungsfähig zu sein, ist stark schambesetzt"
Die steigende Zahl an Depressionserkrankungen in Deutschland sind nach Ansicht des Psychoanalytikers Wolfgang Schmidbauer kein Zufall. Um das zu ändern, müsse die Gesellschaft als Ganze von ihrem extremen Leistungsgedanken ablassen, fordert er.
In seinem Buch "Raubbau an der Seele" schreibt Wolfgang Schmidbauer, wie Depressionen - und Vorstufen wie Burn-out, Mobbing und Stalking - die Lebensqualität und Arbeitsfähigkeit vieler Menschen gefährden. Verdeutlicht wird die Zunahme an psychischen Erkrankungen durch eine Zahl aus dem Depressionsatlas der Techniker Krankenkasse: So hat sich die Tagesmenge an Antidepressiva, die zwischen 2000 und 2013 verschrieben wurde, verdreifacht.
Schmidbauer kritisiert, dass Nachdenken und Muße in unserer Gesellschaft kaum Platz haben. Sich mit weniger zufrieden zu geben, habe in unserer Gesellschaft eine sehr geringe Akzeptanz, meint Schmidbauer. Die Folge sei, dass die Menschen ihren Leistungsansprüchen selbst nicht mehr gerecht werden könnten und dadurch auch häufiger an Depressionen erkrankten.
Medikamente könnten das Problem nicht lösen. Stattdessen fordert Schmidbauer die Etablierung von Schonräumen.
Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Jeder von uns kennt das: Nur wer immer bereit ist, mehr als 100 Prozent zu geben, der gilt als erfolgreich. Das geht bis zur Frage: "Was machst du in den Ferien?" Mit dem Satz: "Ich mache einfach mal nichts, Luft, Licht, Zeit, Raum, Muße", dann wird man zwar irgendwie beneidet, aber manchmal auch ein bisschen komisch angesehen. Dabei ist es doch genau das, was uns fehlt: Muße, Zeit, Raum. Immer mehr Menschen leiden an Depressionen, und das hat nichts mit Genetik zu tun, sondern mit Überforderung – sagt zumindest der renommierte Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer und hat sein neues Buch so genannt, das heute erscheint: "Raubbau an der Seele" heißt es. Herr Schmidbauer, schönen guten Morgen!
Wolfgang Schmidbauer: Ja, guten Morgen, Frau von Billerbeck!
von Billerbeck: Viele Menschen seien zunehmend überfordert und leiden unter Depressionen, und Sie sagen, das sei kein Zufall und auch nicht das Ergebnis besserer Diagnostik, die die Krankheit eben öfter erkennt. Woran liegt es?
Schmidbauer: Also, ich glaube, man kann zwei große Gruppen von Ursachen benennen. Das eine sind die frühen Einflüsse, also, die Kindheit hat ganz viel von den Entspannungsmöglichkeiten, die sie früher hatte, und auch diesen, wie Sie vorher gesagt haben, Freiräumen, den Räumen für Muße verloren und ist sehr gefüllt eigentlich auch von den Ängsten der Eltern, dass ihre Kinder nichts werden, wie man so schön sagt. Das heißt, keinen anspruchsvollen, gut bezahlten Beruf erlernen, nicht die Voraussetzungen dafür erreichen, schlechte Schulnoten haben. Sodass also die Kindheit ganz stark bestimmt ist von dieser Spannung: Schaffe ich es oder schaffe ich es nicht? Und, also, sozusagen liebenswert bin ich eigentlich nur, wenn ich es schaffe. Und das, denke ich, ist dann so die Prämisse für diese späteren Formen von Raubbau, Selbstausbeutung, dass halt, wie Sie auch gesagt haben, ja jeder versucht, hundertprozentig fit zu sein, alle Leistungsmöglichkeiten auszuschöpfen, um eben auch sein Gefühl aufrechterhalten zu können, dass er ein wertvoller Mensch ist und seinen Platz in der Gesellschaft hat.
"Angebot der Pharmaindustrie ist für Depressive verführerisch"
von Billerbeck: Sie schreiben ja in Ihrem Buch auch, dass viele so lange verleugnen, dass sie eigentlich nicht mehr können, bis es dann wirklich gar nicht mehr geht. Leute tun oft so, als hätten sie kein Problem, und die Depression bricht aus, wenn die Kräfte erschöpft sind, welche die Verleugnung aufrechterhalten haben. Warum ist das so, warum versuchen viele Menschen überhaupt, das so lange zu verleugnen?
Schmidbauer: Ja, weil es sehr stark schambesetzt ist. Also, ich meine, nicht leistungsfähig zu sein, daran zu denken, alles hinzuwerfen, keine Lust mehr zu haben … Das ist ja etwas, was sich, je tüchtiger jemand eigentlich bisher gewesen ist, umso weniger mit diesem Selbstbild vereinigen lässt. Und deshalb gleichen halt viele sozusagen Menschen am Rand der Depression diesem angeschossenen Verbrecher, den man aus den Hollywood-Filmen kennt, der halt so tun muss, als ob er völlig fit und gesund wäre, während er halt innerlich unter den Kleidern blutet und ihm alles wehtut und er halt dringend irgendwie ins Krankenhaus müsste, um sich versorgen zu lassen. Das kann er aber nicht, weil ihn die Polizei verfolgt. Und diese Polizei ist eben beim Depressiven verinnerlicht, er kann seinen Schmerz nicht, sich selber auch nicht eingestehen.
Und diese Angst, dass er einen falschen Lebensplan verfolgt hat, dass er alles falsch gemacht hat, indem er halt nicht perfekt alles hingekriegt hat … Und das wirklich schwerwiegende Problem ist ja, dass man an sich ganz gut mit Depressiven arbeiten kann, wenn sie sozusagen noch Kraft haben und noch so viel Distanz zu sich selber haben, dass sie sich das eingestehen können und dass sie dann halt nachdenken können über ihre Lebensform. Aber dass halt sehr häufig das alles verleugnet wird, bis dann halt sozusagen keine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und der eigenen Persönlichkeit mehr möglich ist und dann natürlich dieses Angebot, das von der Pharmaindustrie natürlich sehr passend zum Geist der Konsumgesellschaft kommt – schluck eine Pille und dann geht es dir wieder besser – …, dass das natürlich dann sehr verführerisch ist.
von Billerbeck: Sie schreiben ja auch, dass Individuen immer öfter Raubbau an den eigenen psychischen Ressourcen betreiben, dass es aber da einen Zusammenhang gibt zu den physischen Ressourcen der Gesellschaft. Welche Ressourcen sind es denn, die uns da abhandenkommen?
Schmidbauer: Na ja, ich denke, es ist halt schon sehr symbolisch, wenn wir die Dinge anschauen, die wir entwickelt haben und die uns sozusagen selbstverständlich umgeben. Dass halt es für uns selbstverständlich ist, in ein Auto zu steigen, das 100 und mehr Pferdestärken hat, um als Individuum uns sozusagen durch die Stadt zu bewegen. Es ist ja rein vom … Wenn man nun das Ganze anschaut und die Begrenztheit unserer Ressourcen anschaut, dann ist das eigentlich ein völliger Wahnsinn.
Aber er ist für uns ganz normal geworden, also diese Form vom materiellen Raubbau, dass halt unser Lebensstil darauf beruht, dass wir vier- bis sechsmal mehr verbrauchen, als sich regenerieren kann. Und das ist etwas, was mich schon lange beschäftigt, dass halt das natürlich auch unsere psychischen Strukturen beeinflusst und dass halt dieses extrem hoch gespannte System von Konsum, Komfort, Bequemlichkeit, aber gleichzeitig diese Anspannung, ob man das alles auch aufrechterhalten kann, ob das alles funktioniert, dieses hoch komplexe System, in dem ich da drinstecke und dem ich nicht entrinnen kann, dass das natürlich auch wachsende seelische Probleme macht, Ängste auslöst. Und wenn diese Ängste nicht mehr verleugnet und abgewehrt werden können, dann bricht eben die Depression aus.
"Gesellschaft muss sich auf menschliches Maß zurückbegeben"
von Billerbeck: Jetzt kommt die Frage, und wir haben eigentlich gar keine Zeit mehr, aber ich muss sie Ihnen natürlich stellen: Das war jetzt die Diagnose, was ist die Therapie? Also, wo ist der Ausweg aus dieser Überforderung?
Schmidbauer: Na ja, ich meine, als Autor hat man ja nur begrenzte Möglichkeiten. Ich denke, es wäre natürlich schön zu sagen: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt. Aber ich denke, es ist halt schon auch wichtig, sich diese Gefahren klarzumachen. Und die Lösungen sind natürlich nicht individuelle, dass ich halt jetzt … Also, ich meine, man kann natürlich, wenn man depressiv ist, in eine Psychotherapie gehen, das ist ja eigentlich selbstverständlich. Aber dass die Gesellschaft als Ganzes sozusagen wieder sich so auf ein menschliches Maß zurückbegibt und nicht mehr verbraucht, als sie regenerieren kann, das ist natürlich ein ganz langer Prozess. Aber ich denke, es ist halt auch gerade für die Jugend unglaublich wichtig zu sehen, dass halt die Verantwortlichen sich da wirklich drum kümmern und sich wirklich Sorgen machen und das nicht verleugnen.
von Billerbeck: Der Psychotherapeut Wolfgang Schmidbauer war das, ich danke Ihnen für das Gespräch während Ihrer Ferien und wünsche Ihnen jetzt eine schöne, entspannte Zeit!
Schmidbauer: Vielen Dank!
von Billerbeck: Und das neue Buch von ihm heißt "Raubbau an der Seele. Psychogramm einer überforderten Gesellschaft", 240 Seiten, 22 Euro kostet es.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.