Tagsüber Professor, nachts DJ
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Bertolt Meyer forscht. So untersucht er etwa Stereotype beim Umgang mit Menschen mit Behinderung. Nachts legt der Psychologie-Professor dann als DJ auf. Zuletzt hat er seine eigene Unterarmprothese gehackt, um den Synthesizer per Muskelsignal zu steuern.
"Viele Menschen fahren die Nadel im roten Bereich, um irgendwie mit der Fülle und der Komplexität ihrer Aufgaben klarzukommen. Auf Dauer ist das nicht gesund", sagt Bertolt Meyer. Der Arbeits- und Organisationspsychologe an der TU in Chemnitz ist gerade dabei, seine jüngste Studie auszuwerten: 4000 Menschen wurden von Anfang April bis Ende Juni befragt, wie sie ihren Arbeitsalltag im "Corona-Zwangs-Home Office" erleben.
Ein Ergebnis: Vor allem Frauen sind im Home Office deutlich belasteter als Männer. Und das umso mehr, wenn sie zuhause noch Kinder betreuen müssen. "Man sieht Muster, die ich zumindest als Indikativ für eine gewisse Re-Traditionalisierung der Geschlechterrollen interpretieren würde", sagt der Forscher.
Vom Holzhaken zur Hightech-Hand
In seiner Arbeit an der TU Chemnitz beschäftigt sich Meyer auch mit dem Thema Diversität, wie Gender, Herkunft, Alter. Auch sein eigenes Anderssein hat er zu seinem Forschungsthema gemacht: "Stereotype gegenüber Menschen, die bionische Prothesen tragen".
Bertolt Meyer wurde 1977 ohne linken Unterarm geboren, die Ärzte sprechen von einer "Dysmelie". Es lag keine familiäre Veranlagung vor, kein Gendefekt. "Möglicherweise sind Umwelteinflüsse die Ursache, weil es geographische Häufungen gibt", sagt der gebürtige Hamburger.
Er habe "eine sehr glückliche und unbeschwerte Kindheit" gehabt. Vor allem, weil seine Eltern es verstanden, sein Handicap nie in den Vordergrund zu stellen. Zum ersten Mal wurde er sich seiner Behinderung bewusst, als die Grundschullehrerin direkt nach der Einschulung vor der ganzen Klasse darauf hinwies.
Heute sind die einfachen Holz- und Metallprothesen seiner Jugend einer Hightech-Hand gewichen.
Prothesen im Leistungssport gelten schnell als "Techno-Doping"
Früher zeigten Kinder mit dem Finger auf ihn, heute staunen sie über seine Hightech-Prothese. Begriffe wie "Maschinenmensch" oder "Cyborg" mag Bertolt Meyer allerdings gar nicht. Sie lösten falsche Vorstellungen aus: "Man wird als Mensch mit Behinderung von oben herab belächelt, es sei denn, man wird auf einmal zu einer Konkurrenz. Dann ist es mit dem Belächeln vorbei."
Wie im Fall des unterschenkelamputierten Weitspringers Markus Rehm, der mit seiner Prothese in Deutschland weiter springt als nicht behinderte Sportler und dem jetzt ein "unfairer Vorteil" vorgeworfen wird. Gerade neulich habe er in dem Zusammenhang wieder den Begriff "Techno-Doping" gehört.
Elektrische Impulse direkt in den Synthesizer
Wenn er nicht an der Uni Chemnitz forscht und ihm Corona keinen Strich durch die Rechnung macht, verbringt Bertolt Meyer seine Zeit gerne in Techno-Clubs. Dabei macht ihm das Auflegen mehr Freude als das Mittanzen: "Es ist ein absolut berauschender Moment, wenn man es hinbekommt, den Raum so zu lesen, dass man mit der Musik eine Kollektivität herstellen kann. Dieses gemeinsame Erleben, das Aufgehen in der Musik, in diesem Moment".
Dass er dabei an den Reglern langsamer ist als seine Kolleginnen und Kollegen, die beide Hände zur Verfügung haben, stört ihn schon lange. Gemeinsam mit einem guten Freund und seinem Ehemann entwickelte er deshalb ein Gerät, das die Impulse seiner Muskeln für die Klangerzeugung nutzt: "Ich kann ein Kabel vom Synthesizer in meine Prothese stöpseln und dann gehen die Muskelströme, die ich durch meine Gedanken steuere, als elektrische Impulse direkt in den Synthesizer."
Bis er sich damit auf eine Bühne stellt, wird allerdings noch etwas Zeit vergehen, nicht nur wegen der Corona-Krise: "Wir haben schon etwas gestreamt und ich brauche noch etwas Übung, aber es wird hoffentlich bald so weit sein."
(kuc)