"Es bildet sich eine falsche Kameradschaft"
Sexuelle Nötigung bei der Bundeswehr: Aktuell geht es um den Fall eines Obergefreiten bei den Gebirgsjägern, an dem Vorgesetzte beteiligt sein sollen. Dieses Losgehen auf Schwächere habe damit zu tun, dass eine Armee gewaltbereit sei, sagt der Politikpsychologe Thomas Kliche.
Anke Schaefer: Wir gucken jetzt nach Bad Reichenhall, zum Tatort Bad Reichenhall. Dort sind die Gebirgsjäger der Bundeswehr stationiert, und dort soll ein Obergefreiter durch Mannschaftssoldaten und auch durch Vorgesetzte sexuell belästigt und genötigt worden sein. So steht es in einem Brief des Bundesverteidigungsministeriums an den Bundestag. Der betroffene Obergefreite hat sich schließlich, offenbar nach Monaten der Pein, an den Wehrbeauftragten gewandt, und so ist es jetzt öffentlich geworden. Und das ist jetzt also wieder ein Fall sexueller Gewalt, der bekannt wird. Im Januar wurde ja über schwere Misshandlungsvorwürfe aus einer Ausbildungskaserne im baden-württembergischen Pfullendorf berichtet. Da soll es sexuell sadistische Praktiken und auch Gewaltrituale gegeben haben. Für uns hier in "Studio 9" jetzt am Telefon Professor Thomas Kliche, er ist Politikpsychologe an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Guten Tag!
Thomas Kliche: Schönen Tag allerseits!
Schaefer: Sexueller Sadismus, Unterwerfungsrituale, Mobbing – immer wieder hören wir von solchen Missständen in der Bundeswehr. Jetzt ist aber die Bundeswehr nun wirklich keine Armee in einem unzivilisierten Land. Wie kann das also kommen?
"Armee hat eine Lizenz zum Töten"
Kliche: Armee ist immer was Besonderes. Armee hat eine Lizenz zum Töten und hat insofern einen Leitwert, der anders ist als der unserer Gesellschaft. Wir dürfen nicht töten, Armee darf es unter bestimmten Gesichtspunkten, und dafür hat sie eine Organisation, die quasi neben dem Staat steht. Kern der Sache ist ja, es gibt Befehl und Gehorsam. Es gibt aber auch eigene Gelände, eigene Kleidung, eigene Rituale, eigene Regeln. Das heißt, die Organisation Armee ist immer, auch innerhalb zivilisierter Gesellschaften, eigenen Gesetzen unterworfen. Und dazu kommt, dass in diesen Kleinteams, in denen ja auch die Soldaten geschult werden für das Überleben im Feld, also in der Gefechtssituation, extrem wichtig sind, man sich da also bedingungslos aufeinander verlassen muss, und das heißt, es bildet sich so eine Mentalität von "Wir sind was Besonderes, wir gehören zusammen", also es bildet sich so was wie eine falsche Kameradschaft.
Schaefer: Aber wenn man von sich sagt, wir sind etwas Besonderes, dann könnte man ja meinen, dass diese Gruppe auch Werte hochhält und genau das nicht tut, dass hier die Guten sind, die sich dann gegen einen Schlechten in Anführungszeichen verbünden?
Kliche: Das ist oft auch mit dem Gefühl verbunden, wir sind eine Elite, wir sind sportlich unglaublich leistungsfähig. Wir reisen durch die Welt und machen sonst wo Ausbildungen. Von uns hängt die Sicherheit des Landes ab. Dieses Losgehen auf Schwächere hat ja auch was damit zu tun, dass Armee gewaltbereit ist, und Gewalt hat was mit Dominanz zu tun. Dominanz ist die Durchsetzung von Stärke. Also Stärke ist in Armeen, übrigens auch in Polizeien, immer ein Wert.
Schaefer: Welche Rolle spielen da auch die hierarchischen Strukturen? Hier scheinen es ja auch tatsächlich Vorgesetzte gewesen zu sein, die sich da mit beteiligt haben an dem Sadismus.
"In jeder Organisationskultur spielen die Vorgesetzten eine Schlüsselrolle"
Kliche: Generell, in jeder Organisationskultur spielen die Vorgesetzten eine Schlüsselrolle. Die machen Werte deutlich, indem sie hinschauen oder weg sehen. Und die Bundeswehr hat sich da jetzt nicht unbedingt mit Ruhm bekleckert. Es sind ja nach wie vor Einzelfälle, aber tatsächlich sind einige dieser Einzelfälle mit Versetzungen eher die Leiter hoch beantwortet worden. Das sind ja auch Signale, die in der Truppe wahrgenommen werden.
Schaefer: Und warum äußert sich diese Gewalt ganz oft gerade in sexueller Erniedrigung, in sexuellem Sadismus?
Kliche: Ich bin nicht sicher. Ohne den Einzelfall jetzt in allen unappetitlichen Details zu untersuchen, ist das in der Regel sexualisierte Gewalt. Gewalt wird dann als besonders machtvoll erlebt, und der Täter erlebt sich auch als besonders machtvoll, wenn er Menschen in ihrem Intimbereich zur Kooperation zwingt, einem Bereich, den wir sonst in unserer Gesellschaft ja immer schützen. Aber es ist sehr oft so, dass da nicht irgendein sexueller Vollzug mit verbunden ist, sondern einfach nur der Genuss, über einen Menschen so zu verfügen, dass man sogar in diese Stellen vordringen kann.
Schaefer: Und denken Sie, dass solche Dynamik, wie wir sie hier jetzt offenbar sehen, tatsächlich in einer Armee eher stattfindet als zum Beispiel in einer anderen geschlossenen Gruppe wie zum Beispiel im Kloster?
"Jemand, der petzt, der ist draußen"
Kliche: Ja, weil Stärke und Schwäche da eine große Rolle spielt. Es gibt auch andere totale Institutionen, wie die Sozialforschung sie nennt, die da anfällig sind, das ist ganz klar. Wenn Sie an Internate denken oder so was, auch da bildet sich so eine Dynamik von Angst vor dem Ausschluss aus der Gruppe. Jemand, der petzt, der ist draußen, der gilt als nicht mehr zuverlässig. Aber die Armee ist schon auch ein Ort, wo es um Macht und Stärke und Waffen geht, also wo man sich gegen Widerstände durchsetzen darf, und wo man auch in Menschenrechte eingreifen darf. Das ist ein Schlüsselunterschied zu anderen sehr totalitären Institutionen.
Schaefer: Der Obergefreite, um den es hier geht, der hat sich offenbar wirklich erst nach Monaten der Erniedrigung dann an den Wehrbeauftragten gewandt. Man muss ja davon ausgehen, dass in anderen Fällen so ein Geschehen gar nicht an die Öffentlichkeit kommt. Wie kommt das, dass da nicht mehr drüber gesprochen wird.
Kliche: Das ist oberpeinlich, das ist ja geradezu was Zurückgebliebenes, Atavistisches, was da in dieser Organisation deutlich wird. Es ist ganz schlecht für die Personalrekrutierung. So was versucht man unterm Teppich zu halten, solange es geht. Und die betroffenen Personen hoffen, es wird besser, hoffen, sie werden irgendwann akzeptiert, und haben natürlich auch Angst vor dem Ausschluss aus der Gruppe, das heißt, auch davor, dass ihre Karriere zu Ende ist, und auch davor, dass sie das als persönliches Scheitern erleben. Also da kommen einige Dinge zusammen.
Schaefer: Denken Sie, dass in der Bundeswehr vielleicht am Ende eine vorbundesrepublikanische Mentalität noch fortlebt.
Kliche: So unbundesrepublikanisch ist dieser Machtgenuss gar nicht. Wenn Sie daran denken, wie viele Menschen – und je nach Befragung kommen Sie da auf 20 bis 30 Prozent unserer Beschäftigten, schon Erfahrungen mit Mobbing haben, auch wie Schüler zum Teil untereinander miteinander umgehen, dann ist schon deutlich, dass Macht in unserer Gesellschaft ein sehr angesehener Wert ist. Und das wird hier mit anderen Mitteln brutalisiert und in einem geschlossenen Kreis unter Wegsehen von Vorgesetzten, unter Umständen radikalisiert, fortgesetzt.
Schaefer: Aber insgesamt, wenn ich Sie recht verstehe, sagen Sie, es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem?
"Wir leben in einer Dominanzgesellschaft"
Kliche: Na ja, wir leben in einer Dominanzgesellschaft. Bei uns ist Erfolg um jeden Preis in jedem Börsenbericht etwas Positives. Gucken Sie in die Nachrichten und gucken Sie sich an, warum so viel Misstrauen gegen Eliten besteht. Weil die das ausleben. Und es ist dann schwer zu sagen, also gerade die Soldaten, die ja auch ein Spiegel der Gesellschaft sind, müssen in besonderer Weise moralisch integer und herausragend sein. Wir versuchen das, weil das ist ja klar, müssen wir versuchen, auch bei den Polizeien, weil die halt eine Knarre in der Hand haben. Aber wir leben in einer Gesellschaft, die da einen Wertwiderspruch hat. Wir sollen nett miteinander umgehen, wir sollen demokratisch die Menschenrechte achten, aber gleichzeitig ist Erfolg ein ganz hoher Leitwert.
Schaefer: Was müsste also getan werden, damit das nicht mehr passiert, gerade in der Bundeswehr?
Kliche: Sehr konsequent hingucken und sehr konsequent auch Vorgesetzte zur Rechenschaft ziehen, die das Hingucken vergessen haben.
Schaefer: Sagt Thomas Kliche, Politikpsychologe an der Hochschule Magdeburg. Vielen Dank, Herr Professor Kliche, für das Gespräch!
Kliche: Schönen Tag allerseits!
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