Psychologie

Das gekränkte Ich

34:52 Minuten
Farbige, überlappende Kopfsilhouetten.
Wie können wir mit Kränkungen umgehen? © imago images / Panthermedia
Von Lydia Heller |
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Die meisten zwischenmenschlichen Konflikte werden durch Kränkungen ausgelöst. Bei den Opfern lösen sie ein komplexes Bündel aus Emotionen aus: Angst, Schmerz, Scham. In der Folge ziehen sich Gekränkte oft zurück. Falsch, sagen Psychologen.
"Eine Kränkung ist eine völlig normale menschliche Reaktion. Gottseidank. Weil sie zeigt, dass wir empfindsam sind, dass wir durch bestimmte Dinge verletzbar sind", sagt die Psychologin Bärbel Wardetzki.
Vor allem in Liebesbeziehungen. Dort ist fast jeder irgendwann mit Kränkung konfrontiert, dort verorten wir Kränkung in der Regel zuerst. Dort schlägt sie am härtesten ein, verwundet am meisten. Aber nicht nur dort.
Kränkungen sind allgegenwärtig. Davon zeugt eine ganze Reihe Fach- und Ratgeberliteratur, deren Umfang Jahr für Jahr wächst. Die Autorinnen und Autoren sehen in Kränkungen die häufigste Ursache zwischenmenschlicher Probleme – bei Paaren, in Familien und unter Freunden. Andere geben Rat für den Umgang mit Beleidigungen am Arbeitsplatz, analysieren Demütigung und Beschämung als Mittel der Politik, beschreiben sogar Terror und Krieg als Kränkungsreaktionen.
Was genau geschieht, bleibt oft schwer zu fassen. Von "destruktiven Energien" ist die Rede, von "komplexen Emotionen", von Angriffen auf Ehre, Würde, Wert. Worte so groß wie unbestimmt. Was ist es, was hier verletzt wird?
"Bei Kränkungen sind es sehr häufig unsere narzisstischen Bedürfnisse", sagt Wardetzki. "Und die sind in der Regel Bedürfnisse, die, wenn sie erfüllt werden, unser Selbstwertgefühl stärken. Narzisstisch heißt ja nichts weiter als den Selbstwert betreffend."
Bärbel Wardetzki hat sich in mehreren Büchern mit Kränkungen auseinandergesetzt.
"Das ist zum Beispiel gehört werden, gesehen werden, beantwortet werden, anerkannt werden. Also diese Dinge, die wir notwendig brauchen, um uns im Kontakt mit einem anderen Menschen wohlzufühlen. Und die Kränkung zeigt: Da ist etwas in mir berührt, was sehr weh tut."
Eine Kränkung sei immer einer Mischung aus verschiedenen emotionalen Zuständen, erklärt Wardetzki: "Zum Beispiel fühlen wir uns ohnmächtig. Wir sind empört, dass der andere so mit uns umgeht. Wir sind zum Teil traurig, weil wir nicht anerkannt oder vielleicht verlassen werden."

Hinter der Kränkung stehen Angst, Schmerz und Scham

Psychologen zufolge tragen Kränkungen Züge von Angst, Schmerz und Scham: Angst, weil meist ein Gefühl von Bedrohung vorliegt. Oft ist dabei nicht ganz klar, worin diese Bedrohung besteht. Sie geht aber – anders als bei Angst – mit einem tatsächlichen Schmerz einher. Daraus wiederum kann Scham resultieren. Denn wie soll man erklären, dass etwas schmerzt, das für andere oft gar nicht da ist?
Psychologen, Evolutionsbiologen, Verhaltensforscher und Sozialwissenschaftler weisen seit Jahren darauf hin, dass soziale Beziehungen für Menschen überlebenswichtig sind, dass sie ein elementares Bedürfnis nach Kooperation und Verbundenheit haben. Wer es schaffte, einer Gruppe zugehörig zu bleiben, hatte mehr Ressourcen zur Verfügung, mehr Schutz und Sicherheit als ein einzelnes Individuum und im Laufe der Evolution größere Überlebenschancen.
"Leute, die sich dafür interessieren, was der Mensch seiner wahren Natur nach ist, haben sich ja schon immer vor allem dafür interessiert, was das eigentlich ist, wonach Menschen streben", sagt Joachim Bauer. Seit mehr als zwanzig Jahren erforscht er die neurobiologischen Grundlagen von Empathie und Motivation. Letztere, so weiß man inzwischen, ist immer dann hoch, wenn im Gehirn das Belohnungssystem anspringt, das Botenstoffe wie Dopamin und Opioide ausschüttet:
"Die Motivationssysteme werden dann aktiv, wenn wir unserem Selbst Ausdruck geben können. Und wenn wir dann erleben, dass andere auf uns schauen und uns wohlwollend akzeptieren, so wie wir sind. Wenn wir Anerkennung, Wertschätzung erfahren und dann zugehörig sind zu einer Gruppe."
Eine Kränkung hingegen sei für das Gehirn eine ziemlich komplexe Erfahrung, sagt Bauer. "Wenn ich zum Beispiel Testpersonen hören lasse, dass jemand anderes schlecht über sie gesprochen hat, dann reagieren die Selbstsysteme. Wenn ich jemanden dadurch kränke, dass ich ihn unfair behandle bei der Verteilung von Ressourcen, dann reagieren die Ekelsysteme. Oder wenn jemand dadurch gekränkt wird, dass die Gruppe ihn ausschließt oder sie ausschließt und sagt: 'Du gehörst nicht mehr zu uns', dann reagieren die Schmerzsysteme. Die Schmerzsysteme des menschlichen Gehirns reagieren nicht nur auf zugefügten körperlichen Schmerz, sondern auch auf soziale Ausgrenzung und Demütigung."

Auch neurobiologisch ist die Schmerzerfahrung zu erkennen

2003 hatte die amerikanische Sozialpsychologin Naomi Eisenberger Personen untersucht, die in einem Computerspiel virtuellen Mitspielern Bälle zuwerfen sollten. Nach einer Weile spielten die virtuellen Figuren allerdings allein. Die Folge: Probanden äußerten sich nicht nur gekränkt über die Ausgrenzung – sie reagierten später auch körperlich stärker auf Schmerzreize. Im Blut von Menschen, die soziale Ablehnung erfahren, fanden Forscher zudem erhöhte Anteile entzündungsfördernder Botenstoffe, die Schmerzwahrnehmung weiter steigern.
"Die Kränkung ist etwas, was praktisch die Realität mir antut", sagt der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer. "Ich habe, ironisch gesagt, eine ganz einfache Erwartung an das Leben, dass nämlich alles glatt läuft, so wie ich es mir vorstelle. Und dann fange ich an zu leben und stelle fest: Es ist nicht der Fall. Und dann bin ich halt erstmal gekränkt."
In seinen Büchern lotet der Psychoanalytiker immer wieder die Grenze aus zwischen notwendigem Streben nach Anerkennung – und Selbstsucht. Zwischen gesundem und übersteigertem Egoismus – und dessen Einfluss auf unsere individuelle Kränkbarkeit.
"Irgendwann ist klar, dass es ohne Kränkungen nicht geht. Und dann ist es natürlich auch immer ein Verhältnis zwischen den Erwartungen und der Kränkung."
Die Erwartung, dass im Leben alles glatt läuft und man die Kompetenz besitzt, alle Lebenssituationen bewältigen zu können, ist Teil unseres primären Lebensgefühls. Der "primären Größenfantasie". Sie ist notwendig, um das Leben und seine Aufgaben überhaupt in Angriff zu nehmen.

Kränkungen zu verarbeiten, will gelernt sein

Kritisch allerdings wird es, wenn jemand nicht lernt, dass eben doch nie alles so läuft wie gedacht, dass man doch nie allen Anforderungen gewachsen ist. Wenn jemand im sogenannten "primitiven Narzissmus" steckenbleibt, in der Wahrnehmung, dass, wenn nicht alles gut ist, offenbar alles schlecht sein muss. Wenn man nicht lernt, mit Kränkungen umzugehen.
"Es gibt einen sehr wichtigen Begriff für das, was in der Erziehung möglich ist, um die Kränkungs-Verarbeitung zu stabilisieren: 'die optimale Frustration'", betont Schmidbauer. "Dass man dem Kind nicht alles abnimmt. Aber dass die Anforderungen an das Kind so sind, dass es immer einen Entwicklungsanreiz darstellt. Nicht dass man sagt, wenn das Kind schreit und die Mama darf auf gar keinen Fall weggehen, obwohl ein Babysitter da ist. Dann würde ich sagen, ist die optimale Frustration die, dass die Mama einfach geht. Dass das Kind diese Kränkung bewältigen kann und man sie ihm auch zumutet."
Der Neurowissenschaftler Joachim Bauer sieht das ähnlich:
"Wir können als Menschen nur überleben, wenn wir eine gewisse Resilienz gegenüber kleinen Kränkungen haben. Und diese Resilienz, diese Widerstandskraft erwerben wir dadurch, dass wir ein starkes inneres Selbst in uns haben. Und dieses starke innere Selbst erwerben Menschen als Kinder, nämlich in der Zeit, wo sie aufwachsen. Wenn da Menschen um sie herum sind, die das Kind spüren lassen: Du bist willkommen auf dieser Welt, wenn du mal einen Fehler machst, geht die Welt nicht unter, wir mögen dich so, wie du bist. Und ein solches Kind wird im sozialen Feld draußen, wenn es kleine Kränkungen erlebt, nicht so sensibel reagieren."
Kränkungsverarbeitung könne man trainieren wie einen Muskel, meint der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer. "Und genauso wie beim Muskel-Training: wenn man einen Muskel zu sehr beansprucht, dann reißt er und dann gibt’s nichts mehr zu trainieren. Und so ähnlich ist es halt, wenn die Verarbeitung der Kränkung traumatisierend ist, dann wird die Kränkungsverarbeitung nicht gestärkt, sondern geschwächt. Man kann sagen: das Trauma ist eine nicht als normal eingeschätzte Überforderung der Kränkungsverarbeitung."

Viele Kränkungen geschehen unabsichtlich

Wer in der frühen Kindheit ein stabiles Selbstwertgefühl entwickeln konnte, ist weniger kränkbar. Umgekehrt ist das Selbstwertgefühl von jemandem, der sich häufig gekränkt fühlt, wahrscheinlich eher brüchig. Und seine Kränkungsverarbeitungs-Kompetenz wenig ausgereift.
Oder sie wird geschwächt. Denn Kränkungsgeschehen sind nicht allein das Problem der Gekränkten. Oder muss man tatsächlich einfach einsehen, dass Erwartungen, die man ans Leben hatte, überzogen sein können? Muss man schlicht lernen, es auszuhalten, wenn sie sich nicht erfüllen? Sollte man grundsätzlich gar nicht erst nicht erwarten, dass auch die Personen oder Umstände, die jemand als kränkend empfindet, sich ändern können?
"An sich können wir keinen anderen Menschen kränken, weil wir nicht wissen, wo seine wunden Punkte sind. Jede Kränkung setzt an einem wunden Punkt an, an einer Selbstwert-Verletzung, die vielleicht schon sehr lange vorbei ist. In der Regel werden Menschen von uns gekränkt, obwohl wir es gar nicht merken", sagt Bärbel Wardetzki.
"Also, das kennt man ja, dass manchmal der Kontakt zu jemandem abbricht und das kann gut sein, dass die sich durch irgendwas gekränkt fühlen und wir haben gar keine Ahnung. Das heißt, wenn sich jemand von uns gekränkt fühlt, dann ist es mitunter überhaupt nichts von uns, sondern das ist die Verarbeitungsweise des anderen."
Kränkungen sind auch deshalb schwer zu vermeiden, weil jede Seite von sich annimmt, im Guten zu handeln. Nur in seltenen Fällen wird bewusst gekränkt, in der Regel liegt keine Absicht vor. Sollen Kränkungen aufgearbeitet werden, muss das deshalb von den Gekränkten ausgehen.
"Aber gekränkte Menschen reden oft nicht da darüber. Die sagen: 'Na, das musst du doch selber wissen!' Dann ist es ein Angriff. Viel besser ist: Ich sage dem anderen: 'Das, was du jetzt gemacht hast, das hat mich verletzt. Und wie ist es denn für dich? Ja? Dann kann der andere sagen: 'Das tut mir leid, das hab ich gar nicht so gemeint.' Dann kann man sich verständigen und dann wird die Beziehung nicht darunter leiden. Sonst leidet die Beziehung drunter."
Was ein Mensch tut, sagen Emotionspsychologen, das ist in der Regel nicht die Ursache für das, was ein anderer Mensch fühlt. Sondern meist lediglich der Auslöser für ein Gefühl. Welches Gefühl die andere Person erlebt, kann dabei ganz verschieden sein. Und – außer Angst bei der Begegnung mit wilden Tieren und Freude beim Anblick geliebter Personen – ist es abhängig davon, wie die erlebte Handlung bewertet und interpretiert wird. Und wer ihr welche Bedeutung zuschreibt.
Dieselbe Handlung kann jemanden kränken – und jemand anderen nicht. Das heißt für den Umgang mit Kränkung: Es kann entweder die kränkende Handlung vermieden werden. Oder man unterstützt die Gekränkten darin, diese Handlung nicht überzubewerten. Aber wer bestimmt, was eine kränkende Handlung ist? Und wann sich wer nicht gekränkt fühlen muss?

Auch auf gesellschaftlicher Ebene gibt es Kränkungen

"Ich hätte es nicht Kränkung genannt, aber mit Sicherheit ist ein Gefühl auch eine Motivation gewesen für dieses Buch. Und das Gefühl war kein gutes. Also Kränkung gefällt mir als Wort sogar, ehrlich gesagt, ziemlich gut dafür", sagt die Publizistin Ferda Ataman. Sie veröffentlichte 2019 ihr Buch "Hört auf zu fragen. Ich bin von hier".
Ferda Ataman, Vorsitzende der Neuen Deutschen Organisationen, sitzt nach dem Integrationsgipfel im Bundeskanzleramt bei einer Pressekonferenz.
Die Journalistin und Buchautorin Ferda Ataman.© Jens Büttner/dpa/picture-alliance
"Tatsächlich sind Menschen, die hier geboren sind, irgendwann genervt, wenn sie immer wieder die Frage beantworten sollen, wo sie herkommen. Die Frage heißt für mich, offenbar bin ich in den Augen meines Gegenübers nicht von hier. Und wenn man mir ständig sagt: 'Mensch, du sprichst aber gut Deutsch!', dann ist das kein Kompliment. Dann heißt das, dass eigentlich von mir erwartet wird, dass ich schlecht Deutsch spreche. Und dann hört bei mir tatsächlich so ein sachliches Verständnis auf und das Gefühl, das dann kommt, ist so ein Grummeln. Also Wut, Ärger, Empörung, Lustlosigkeit. Manchmal auch Trotz."
In den Interviews nach der Veröffentlichung dann tauchte immer wieder eine Frage auf, berichtet Ataman:
"'Sie haben so ein wütendes Buch geschrieben, warum denn so wütend?' Und ich war total perplex, weil ich irgendwie fand, das ist gar nicht wütend. Und ich finde es interessant, dass schon allein, wenn ich mal sage, 'da platzte mir der Kragen', dass das schon als starke Emotion wahrgenommen wird. Also, es passiert etwas, man empfindet das als Ungerechtigkeit. Man empfindet es zusätzlich als Ungerechtigkeit, dass man nicht darüber reden soll."
2018 entfernt eine Berliner Hochschule ein Gedicht von ihrer Hauswand, weil es in den Augen einiger Studierender von männlicher Zudringlichkeit erzählte. Reaktion:
Zensur. Sie übertreiben.
Serien, Artikel oder Tweets werden immer öfter mit Trigger-Warnungen versehen, die darauf hinweisen, dass der folgende Text Traumata wachrufen könnte. Reaktion:
Snowflakes!
Unter dem Hashtag #MeToo berichten zehntausende Frauen seit 2017 öffentlich über sexuelle Übergriffe. Unter "MeTwo"-"Ich zwei" machen Menschen darauf aufmerksam, dass bestimmte Faschingskostüme oder Bezeichnungen für Süßigkeiten rassistisch beleidigen können. Reaktion:
Es ist doch nicht böse gemeint, ein Kompliment, ein Zeichen von Interesse. Seid doch nicht so empfindlich!

Ist der Fokus auf Identität ein Manöver der Etablierten?

"Wir haben es hier zu tun mit Kulturalisieren. Es wird so getan, als wären das nur Probleme von Vorurteilen anderer, die müssen nur anders denken, dann geht es schon wieder allen gut, dann ist schon wieder Gerechtigkeit hergestellt. Und so weiter. Und diese Kulturalisierung, Psychologisierung führt auch dazu, dass die Probleme miniaturisiert werden. Das ist sehr naiv", sagt Robert Pfaller, Professor für Philosophie an der Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung in Linz. Dass Sensibilitäten – Wut, Trotz, Gekränktheit – in die öffentliche Debatte Einzug halten, hält er für ein Täuschungsmanöver der Etablierten:
"Ab Mitte der 1980er-Jahre endet so etwas wie eine Sozialpolitik. Ab jetzt ist nicht mehr genug Geld da für eine Politik, die dafür sorgt, dass Menschen Ausbildung machen können, dass sie Kinderbetreuungsplätze haben, dass sie Pensionen haben und so weiter. Um aber doch so zu tun, als würde man noch Sozialpolitik betreiben, hat man begonnen, Minderheiten zu adressieren."
Dieses Bild zeigt den Philosophen und Professor für Kulturwissenschaft und Kulturtheorie Robert Pfaller, er gestikuliert am Diskussionstisch vor einem Mikrofon.
Der Philosoph Robert Pfaller hält daran fest, dass nicht kulturelle, sondern soziale Konflikte in einer Gesellschaft entscheidend sind.© imago images / Rudolf Gigler
Das funktioniere vor allem auf der Ebene der Sprache, die den Fokus auf bestimmte Besonderheiten dieser Minderheiten lenkt. Damit allerdings gerate eine wesentliche Ursache für Diskriminierung aus dem Blick: soziale Ungleichheit. Und zugleich verschwindet eine Fähigkeit, die nötig ist, um Ungleichheit und Diskriminierung zu überwinden: Die Fähigkeit, dass man sich öffentlich sachlich über gemeinsame Ziele verständigen kann. Und dabei von persönlichen Verletzlichkeiten absieht.
"Dass sich innerhalb dieser Gesellschaft Leute zusammenschließen, die dieselben Interessen haben, die aber nicht unbedingt dieselbe Identität haben, also jetzt in kultureller, religiöser, sexueller oder sonstwie gearteter Hinsicht. Und in der Lage sind zu erkennen, dass sie trotz ihrer Verschiedenheit dieselben Interessen haben. Zum Beispiel die massiven Reallohnverluste, die ein Großteil der Bevölkerung hinnehmen musste. Und das war bürgerliche Öffentlichkeit! Man hat nicht gesagt, wer jemand ist, sondern man hat gesagt: Wir beurteilen dich danach, was du sagst und wo du hinwillst politisch. Und dann wissen wir, wo du stehst und ob du ein Verbündeter bist oder ein Gegner."
Wenn man die Leute dagegen nach Identitäten in kleinen Gruppen zusammenzuschließen wolle, verschwinde das Modell von Gesellschaft und von gemeinsamer gesellschaftlicher Gestaltung.
"Das ist natürlich ein Standpunkt, den man gut vertreten kann, wenn man selbst in das Allgemeine eingeschlossen ist", sagt die Autorin Anta Helena Recke.

Ausgrenzungserfahrung als kontinuierliche Kränkung

Nicht jeder, der Rücksicht auf eine individuelle Verletzlichkeit fordert, ist sozial benachteiligt. Aber jeder, der sozial benachteiligt ist, erlebt das in der Regel als Ausgrenzung. Als Kränkung. Und auch wer nicht sozial benachteiligt ist, kann aufgrund von gefühlten oder zugeschriebenen Identitäten gekränkt, ausgeschlossen, diskriminiert werden.
"Ich erzähle im Buch unter anderem, was mit den Leuten passiert, die hier geboren sind, die akzentfrei Deutsch sprechen, die sich auch als Deutsche fühlen, wenn die erzählen sollen: Wie war der Urlaub in der Heimat? Obwohl die Heimat ja, Kreuzberg, Stuttgart, was weiß ich, also: man ist ja in der Heimat", sagt Ferda Ataman. "Es ist 2020! Deutschland ist ein superdiverses Land. Und das spiegelt sich aber in unseren Debatten nicht so wider. Und im Alltag auch nicht."
Was ist, wenn auch ein sachlich vorgebrachter Hinweis auf Kränkungserfahrungen als Angriff verstanden wird? Oder wenn jemand, der auf eine Kränkung hinweist, gar nicht gehört wird?
"Die Kränkung besteht darin, dass du anders bist". In der enttäuschten Erwartung, dass mein Gegenüber ist wie ich und die gleichen Ziele hat. Wie kommt diese Erwartung zustande? Und: Schließt so ein "Anderssein" aus, dass es gemeinsame Ziele gibt?
"Ich würde schon sagen, dass es ein Versprechen gab", meint Ferda Ataman. "Die Geschichte beim Thema Integration ist: Wenn man die Sprache spricht, wenn man sich anpasst, mit Leitkultur und wenn man sich eben sehr, sehr deutsch verhält, kein Kopftuch trägt, Schweinefleisch isst, Alkohol trinkt – dass man irgendwann dann Mitglied in diesem Klub wird. Integrieren heißt ja reinkommen. Und dann drin sein."
Dass dieses Versprechen immer wieder gebrochen wird, schreibt Ferda Ataman, habe sie spätestens 2018 gemerkt. Als das Foto von Mesut Özil und dem türkischen Präsidenten kursiert und der ehemals gefeierte Nationalspieler daraufhin rassistischen Beschimpfungen ausgesetzt ist.
"Das hat eine Welle der Empörung bei ganz vielen Nachkommen von Migranten ausgelöst. Weil es nochmal der Beweis dafür war: Man ist immer auf Bewährung. Und wenn jemand mit einem türkischen Namen sich für Erdogan interessiert, dann ist die Person nicht integriert. Wenn aber ein deutscher Michel die AfD wählt, dann reden wir nicht über Integration. Wir reden vielleicht darüber: 'Demokratieverständnis problematisch' oder so. Und dieser Unterschied zu sagen: Der eine gehört in den Club, egal, was er oder sie tut – der andere gehört nicht mehr in den Club, wenn er oder sie einen Fehler macht, weil die Wurzeln im Ausland liegen – das ist ein fataler gesellschaftlicher Fehler. Das führt dazu, dass die Gefühlsebene sehr viel wichtiger wird als die Sachebene."
Eine anhaltende Ausgrenzungserfahrung. Eine kontinuierliche Kränkung. Mit konkreten Folgen.
"Wer hier wen als zugehörig empfindet, das entscheidet darüber, wie wir Gesetze machen, wer welchen Job bekommt, wer welche Wohnung bekommt", betont Ataman. "Das hat so viele Konsequenzen, die mit echter Diskriminierung zu tun haben und teilweise mit echtem Rassismus, den Menschen erfahren, der manchmal sogar in Gewalt endet."

Die gesellschaftliche Diskussion muss von den Gekränkten ausgehen

"Aus dem stabilen Selbst kann ein instabiles Selbst werden", sagt Neurowissenschaftler Joachim Bauer. "Feindschaft, viel Zurückweisungen – solche grundlegenden störenden Erfahrungen können auch dann, wenn der Mensch zunächst mal ein stabiles Selbst hatte – sekundär kann es dann wieder zu einer Schwächung des Selbstwertgefühls kommen und dann auch wiederum zu einer vermehrten Empfindlichkeit gegenüber Kränkungen."
"Interessant ist ja, dass dieser Vorwurf, Befindlichkeiten zu haben, immer dann kommt, wenn die etablierten Strukturen angegriffen werden", so Ferda Ataman. "Sobald man über Rassismus spricht, fallen so Worte wie Opferrolle. Interessanterweise dreht man das selten um. Also, wir haben ja gerade eine Debatte gehabt, wie man Deutsche ohne Migrationshintergrund bezeichnet. Und ich kenne viele, die finden 'Kartoffel' – das sei doch nicht nett. Und da zu merken: Okay, da bin ich dann aber selber empfindlich, wenn andere mir eine Zuschreibung aufdrücken, diesen Schritt gehen ganz viele Menschen nicht."
Wer ein Gefühl der Kränkung aus der Welt schaffen möchte, der muss selbst auf seine Verletzung hinweisen. Allerdings wird sich nichts ändern, wenn er dabei auf taube Ohren stößt. Zu echter Meinungsfreiheit, zum Recht auf Reden, gehört daher auch die Pflicht zuzuhören. Wer sich dem verweigert, wird Kränkungsgeschehen nicht beenden. Sondern bestehende Vorrechte und Machtpositionen fortschreiben.
"Ich verwende ja in dem Zusammenhang den Begriff Kränkung gerade nicht in Bezug auf die Reaktion derer, die von Rassismus betroffen sind. Ich arbeite ja mit dem Begriff im Zusammenhang mit dem Widerstand gegen eine antirassistische Praxis", sagt Anta Helena Recke.
In ihrem Theaterstück "Die Kränkungen der Menschheit" fordert sie einen Perspektivwechsel. Die These: Nach der Erkenntnis, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist, dass der Mensch in einer Ahnenreihe mit dem Affen steht und dass er auch nicht vollständig Herr über seine Handlungen ist, müssen die Menschen jetzt mit einer vierten Kränkung zurechtkommen – jedenfalls die weißen, europäischen Menschen.
Ihre Art, die Welt zu erklären ist nicht die einzig gültige – und führt weder zu Frieden noch zu allgemeinem Wohlstand. Auch diese Einsicht kränkt und ruft Abwehr hervor. Aber das ist gut:
"Um an den Ort zu kommen, wo überhaupt gehört werden kann, was da gesagt wird, muss das Subjekt, das da in seinem Selbstbild so gestört wird, weil es sich hier als moralisch integeres, gutes Subjekt versteht und weiterhin verstehen will, muss es durch diesen Abwehrmechanismus", sagt Recke. "Und wenn man ein wenig Bereitschaft dazu hat, über die erste Leugnung und Wut hinaus zu gehen, dann ist es auch lohnend, weil dahinter quasi Erkenntnisse liegen, die fruchtbar werden. Und ich glaube, dass es deswegen so wichtig ist, mit diesen psychologischen Begriffen zu arbeiten."
"Wir sind alle kränkbar, das ist einfach so", sagt die Psychologin Bärbel Wardetzki. "Es wäre wichtig, dass wir uns mit dem Thema mehr beschäftigen. Also dass klarer wird, was da alles an Kränkungen läuft. Und wenn wir das als Gesellschaft nicht bewusst haben, wenn wir es nicht in uns bewusst haben, dann hat das immer Gewalt zur Folge. Sozusagen um das Selbstwertgefühl wieder zu stärken, wird die Verletzung in Wut umgedreht und gegen den anderen gerichtet. Und das ist das Gefährliche an Kränkungen."
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