Psychologie
Vermutlich eine Gruppe von IS-Kämpfern im Nahen Osten © imago
Was Menschen radikalisiert
Der typische Dschihadist aus Westeuropa, das ist ein schlecht integrierter Migrant der zweiten Generation, häufig ein Schulabbrecher oder auf sonstige Weise Gescheiterter. Oder etwa nicht? Nicht unbedingt, meint der Psychiater Henning Saß.
Der typische Dschihadist aus Westeuropa - das denken jedenfalls viele - ist ein schlecht integrierter Migrant der zweiten Generation, ein Schulabbrecher oder auf sonstige Weise Gescheiterter, dem seine Gruppe Geborgenheit vermittelt und das Gefühl, "endlich mal was Richtiges zu tun". Doch so einfach ist es leider nicht.
"Man kann es nicht immer erklären"
Solche Fälle seien zwar häufig, aber auch intelligente und gebildete Menschen könnten sich radikalisieren, meint der Psychiater Henning Saß. "Es gibt ganz unterschiedliche Arten, wie man hineinkommt, sodass sich ein generelles Erklärungsmuster nicht sagen lässt."
Immerhin lassen sich "Risikofaktoren" identifizieren, die eine Radikalisierung begünstigen. Diese lägen entweder in der Persönlichkeit oder der sozialen Situation, meint Saß:
"In der sozialen Situation sind das Dinge wie Enttäuschung, Verbitterung, sozial nicht Eingeordnet-Sein, unangenehme Dinge erlebt zu haben, benachteiligt zu sein. In der Persönlichkeit sind das bestimmte Eigenschaften, etwa eine gewisse Rigidität, also Starrheit, eine gewisse Empfindlichkeit und Kränkbarkeit, vielleicht auch eine Neigung, sich selbst stark im Mittelpunkt zu sehen und sich selbst auch zu verabsolutieren in der Weise, dass man glaubt, der eigene Standpunkt ist der richtige und die Umgebung macht alles falsch."
Das Internet als Verstärker
Eine wichtige Rolle bei der Radikalisierung spielt dem Psychiater zufolge das Internet.
"Das Internet führt dazu, dass die Möglichkeiten, sich Bestätigungen zu holen, sich Gruppen zu suchen, denen man sich anschließt, sehr viel größer geworden sind. Es hat auch eine gewisse ansteckende und prägende Wirkung."
Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Die sind doch krank im Kopf! – das denkt man sich manchmal, wenn man von Leuten hört, die sich radikalisiert haben und sich rechtsextremen Bewegungen oder auch islamistischen Terrorgruppen anschließen beziehungsweise glauben, in deren Auftrag zu handeln. Wenn das so ist, dann ist das natürlich auch ein Fall für die Psychiatrie und damit für Henning Saß. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, frühere ärztliche Direktor des Universitätsklinikums Aachen und renommierte Gerichtsgutachter spricht heute auf dem Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie zum Thema Radikalismus, und vorher spricht er mit uns. Guten Morgen, Professor Saß!
Henning Saß: Guten Morgen!
Persönlichkeits- und sozialisationsbedingte Risikofaktoren
Kassel: Kann im Prinzip jeder zum Extremisten werden oder muss man dazu bestimmte Voraussetzungen mitbringen?
Saß: Ich denke, dass es bestimmte Voraussetzungen braucht, die meist in der Persönlichkeit liegen und/oder in der sozialen Situation. Es gibt bestimmte Risikofaktoren, die dazu führen, dass eine Radikalitätsentwicklung erleichtert wird. In der sozialen Situation sind das Dinge wie Enttäuschung, Verbitterung, sozial nicht eingeordnet sein, unangenehme Dinge erlebt zu haben, benachteiligt zu sein. In der Persönlichkeit sind es bestimmte Eigenschaften, etwa eine gewisse Rigidität, also Starrheit, eine gewisse Empfindlichkeit und Kränkbarkeit, vielleicht auch eine Neigung, sich selbst stark im Mittelpunkt zu sehen und sich selbst auch zu verabsolutieren in der Weise, dass man glaubt, der eigene Standpunkt ist der richtige und die Umgebung hat alles falsch.
Kassel: Ist es streng genommen überhaupt korrekt, zu sagen, Menschen radikalisieren sich, oder werden sie nicht doch in der Regel von anderen radikalisiert?
Saß: Ich denke, es gibt beides. Zum einen möchte ich aber auch sagen, Radikalisierung ist natürlich ein sehr genereller Begriff, und die Menschen, die da hineinkommen, sind sehr unterschiedlich. Wir haben es bei Gesunden, wir haben es bei Kranken, wir haben es in Gruppen, wir haben es einzeln. Wir haben es offen, wir haben es heimlich. Es gibt ganz unterschiedliche Arten, wie man hineinkommt, sodass sich ein generelles Erklärungsmuster nicht sagen lässt. Wir haben, wenn Sie fragen "radikalisieren sich", wir haben Leute, die sich ganz allein in so etwas hineinentwickeln. Denken Sie an den Breivik in Norwegen. Der war ja mehr oder weniger isoliert. Wir haben andere, da gehört das Gruppenleben unbedingt dazu. Ein Beispiel sind die Hooligans, zum Beispiel, die das nur in der Masse tun.
"Auch sehr intelligente Menschen können sich radikalisieren"
Kassel: Ich habe manchmal das Gefühl, wenn nach Anschlägen etwas bekannt wird über die Menschen, die dahintersteckten, manchmal habe ich den Gedanken, das war ein unglaublicher Dummkopf, und manchmal habe ich den Gedanken, mein Gott, das war eigentlich ein wahnsinnig intelligenter Mensch. Haben eigentlich Intelligenz und Bildung irgendetwas zu tun damit?
Saß: Nicht unbedingt. Es können sich auch sehr intelligente Menschen radikalisieren, wenn sie eben die Persönlichkeitsvoraussetzungen dafür mitbringen, das, was ich gesagt habe. Denken Sie an fanatisch querulatorische Entwicklungen, das sind manchmal hochintelligente Personen, die in einen Rechtskampf geraten, sich an der Wand sehen, nicht mehr weiterwissen, ihre eigene Meinung, ihren eigenen Standpunkt verabsolutieren und dann eben sich radikalisieren.
Ein wunderschönes Beispiel ist Michael Kohlhaas von Heinrich von Kleist in der Literatur, der als Rosshändler sich falsch behandelt fühlt, der Obrigkeit einen Zoll zahlen musste, dagegen anging, sich nicht durchsetzen konnte und dann schließlich mordend und brandschatzend durch die Lande zog. Das ist ein Beispiel für einen intelligenten und eigentlich rechtschaffenen Menschen, der da hineingerät.
Oft sind es allerdings auch Menschen, die irgendwie in einer bedrängten sozialen Lage sind, denken Sie an Emigranten in der zweiten Generation, die in der Schule und im Beruf nicht so zurechtkommen und sich dann eben eine Ersatzumgebung suchen, in der sie sich stark und sicher und geborgen fühlen und in der es einfache Antworten auf komplizierte Fragen gibt, natürlich dann sich ideologisch unterlegt radikalisieren.
Häufigste Fälle sind schlecht integrierte Migranten der zweiten Generation
Kassel: Nun heißt es ja immer wieder, gerade auch beim religiös motivierten Radikalismus, na ja, das sind Menschen, die zum Beispiel in Deutschland oder auch woanders in Europa nie richtig angekommen sind. Sie haben die Schule abgebrochen, sie haben keine deutschen Freunde, sie haben keinen Arbeitsplatz. Oft stimmt das auch, aber ja auch nicht immer. Manchmal gibt es da Leute, die wirken komplett integriert, haben studiert, sprechen perfekt die jeweilige Landessprache, und dann werden die zu Terroristen. Hat man da irgendwas übersehen, oder gibt es manchmal auch Fälle, wo auch Sie zugeben, man kann es nicht immer erklären?
Saß: Ich denke, man kann es nicht immer erklären. Sie haben sehr schön geschildert dieses Muster, dass wir am häufigsten finden bei Dschihadisten, die dann hier, wie gesagt, in der zweiten Generation sind, irgendwie scheitern und dann radikalisiert und indoktriniert werden und sich dann dieser Gruppe anschließen und dort Sicherheit, Geborgenheit finden, ein Gruppengefühl, ein Gefühl, endlich mal was Richtiges und Erfolgreiches zu tun. Aber es gibt auch Menschen, die bei hoher Bildung und guter Differenzierung der Persönlichkeit aus unglücklichen Bedingungen in der Persönlichkeit heraus hineingeraten.
Kassel: Kann man als Laie eigentlich so eine Radikalisierung erkennen in seiner Umgebung?
Saß: Beides. Es gibt Menschen, die sich still und heimlich radikalisieren und nicht in Erscheinung treten und erst durch den radikalen Akt, zum Beispiel ein Attentat oder so, erkennbar werden. Es gibt andere, bei denen das in Äußerungen gegenüber den Angehörigen, in ihren Gruppen, im sozialen Netzwerk, im Internet, auf Demonstrationen schon erkennbar wird. Es gibt den offenen und den klandestinen Typ von Radikalisierung.
"Im Wesentlichen eine Aufgabe der Re-Integration"
Kassel: Kann man eine solche Radikalisierung rückgängig machen, kann man Sie – frage ich natürlich wegen Ihres Berufes –, kann man sie gar therapieren?
Saß: Man kann sicherlich etwas daran tun. "Therapieren" würde man als Begriff benutzen, wenn es sich um Krankheit handelt, was ja in den seltensten Fällen der Fall ist. Und wenn eine Krankheit vorliegt, wird eben die zugrundeliegende Krankheit behandelt, und dann gelingt es in der Regel, es zu bessern. Schwieriger ist es, wenn es über eine langjährige Entwicklung tief in der Persönlichkeit eingegraben ist, diese Tendenzen zur Radikalität und auch zur Gewaltbereitschaft. Man muss versuchen, an den Ursachen etwas zu tun, die die Leute da hinein gebracht haben, und das sind eben Dinge wie echte oder empfundene soziale Benachteiligung, ein Herausfallen aus der Schule, ein Nichtgelingen von Beruf. Im Grunde ist es im Wesentlichen dann eine Aufgabe der Integration oder der Reintegration.
Im Internet finden Gefährdete Gleichgesinnte
Kassel: Hat das alles, dass wir zumindest das Gefühl haben, aber ich glaube, man kann es auch mit Zahlen belegen, dass Radikalisierung zugenommen hat, auch etwas mit dem Internet, mit unseren modernen Medien zu tun? Ich meine damit, dass früher der eine oder andere bei eigenartigen Ansichten vielleicht noch den Verdacht gehabt hätte, na ja, das ist mein Problem, das glaubt ja sonst niemand. Heute findet man ja für jeden Unfug scheinbare Bestätigung.
Saß: Ich glaube, dass das so ist. Das Internet führt dazu, dass die Möglichkeiten, sich Bestätigungen zu holen, sich Gruppen zu suchen, an die man sich anschließt, sehr viel größer geworden sind. Es hat auch eine gewisse ansteckende und prägende Wirkung. Gerade die Dschihadisten, da gibt es einschlägige Seiten, auf denen die Ideologie verbreitet wird, bei der sie auch sehr werbewirksam angepriesen wird mit Schlagworten, mit Botschaften, mit Videos, mit denen junge Leute, die im Suchen sind, sich identifizieren können. Also ich glaube schon, dass das Internet dort eine wichtige Mittlerfunktion hat und leider im Moment nur in Richtung Ideologisierung und Radikalisierung, nicht in der umgekehrten Richtung.
Kassel: Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und renommierte Gerichtsgutachter Henning Saß über die Frage, was Menschen radikal macht. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch, Professor Saß!
Saß: Bitte schön, Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.