Wie unser Kopfkino beim Lesen funktioniert
Ist die Hauptfigur einer Geschichte blond oder eher brünett? Oft haben Menschen eine ähnliche Vorstellung beim Lesen, wie eine Figur aussieht. Die Psychologin Stefanie Miketta hat das mit Versuchsteilnehmern und Textbeispielen untersucht.
Jeder habe zum Beispiel eine Vorstellung von einem typischen Automechaniker oder einem Rechtsanwalt, erklärt Stefanie Miketta: "Wir wissen Dinge über eine Figur aus einem Buch und ziehen einen Schluss basierend auf unserem Vorwissen."
Gemeinsam mit ihren Kollegen von der Universität Saarland hat die Psychologin Versuchsteilnehmern zum Beispiel eine Reihe von Fotos vorgelegt und sie gebeten, zu entscheiden, welches dieser Fotos ihrer eigenen Vorstellung am nächsten kommt - wie bei diesem Textbeispiel aus Remarques "Gwen und die Automobile":
"Meine Freundin Gwen würde niemals einen Eid darauf ablegen, daß die Schlacht bei Zama im Jahre 202 stattfand; – es wäre auch verfehlt, sich mit ihr in eine Diskussion über den pythagoräischen Lehrsatz einzulassen; – sie ist sich auch nie ganz sicher, ob die H-Moll-Symphonie von Schumann oder von Schubert ist; – aber wenn man ihr die Augen verbindet und sie auf die Friedrichstraße stellt, wird sie mit tödlicher Sicherheit von jedem vorüberfahrenden Wagen die Fabrikmarke, die PS-Zahl, den Vergaser und das Alter der Maschine angeben." (Quelle: E. M. Remarque (1926/1998): "Gwen und die Automobile", In T. F. Schneider & T. Westphalen (Hrsg.), Das unbekannte Werk. Frühe Prosa. Werke aus dem Nachlaß. Briefe und Tagebücher , Köln , Kiepenheuer & Witsch.)
Hauptbefund ihrer Untersuchungen sei, dass viele Menschen das gleiche Foto wählten, auch wenn das Aussehen der Figur im Text nicht beschrieben sei, so Miketta: "Wir sind sehr verbunden in unseren Vorstellungen. Ich finde das eigentlich etwas sehr Schönes."