"Um vier Uhr in der Früh, da fielen Babys vom Boot"
Vertrieben, erschöpft, traumatisiert - viele Flüchtlinge, die in Griechenland ankommen, brauchen psychologische Hilfe. Aliki Meimaridou arbeitet bei den "Ärzten ohne Grenzen" auf der Insel Kos und unterstützt die Flüchtlinge dabei, die schrecklichen Erfahrungen zu verarbeiten.
In einem Flüchtlingslager auf der Insel Kos schiebt Aliki Meimaridou gerade ihre Frühschicht. In der letzten Nacht sind wieder mehr Menschen als erwartet angekommen: etwa 500. Sie haben mit einem Boot aus der Türkei übergesetzt, in der vermutlich teuersten Reise ihres Lebens. Die Menschen sind übermüdet und am Ende ihrer Kräfte. Da sind sie froh, dass sie auf ein offenes Ohr bei der Psychologin Aliki stoßen. Sie erkundigt sich nach dem Befinden, fragt woher sie kommen und ob sie etwas brauchen. Seit zwei Jahren gehört die 35-jährige Griechin zum festen Team der "Ärzte ohne Grenzen" in Griechenland.
"Ich erinnere mich an die Geschichte eines kleinen Mädchens aus Syrien, das sehr unter Schock stand. Ich bat es, mir eine Zeichnung zu malen. Da zeichnete sie mir ihre Mama und ihren Papa umgeben von einem Herz auf. Bevor ich sie konkreter danach fragen konnte, erzählte sie von selbst, dass der Papa erschossen worden sei in Syrien. Bei meiner Arbeit geht es nicht allein darum, wie die Flüchtlinge mit den Verhältnissen vor Ort zurechtkommen, sondern auch was sie für Erlebnisse mitbringen seit ihrer Flucht."
"Du wünschst dir, du könntest sterben"
Und diese sind zahlreich. An diesem Tag sucht Nerahim Arafet, eine 22-jährige Syrerin, das Gespräch mit der griechischen Psychologin. Aliki Meimaradou untersteht wie jeder Arzt der Schweigepflicht. Doch als die junge Syrerin den Gesprächsraum verlässt, darf ich sie ansprechen. Was sie weinend berichtet, verschlägt auch mir die Sprache:
"Ich wirke stark, aber ich bin es nicht. Es ist ein Alptraum. Ich wünschte, ich müsste das nicht erleben. Gestern um vier Uhr in der Früh, da fielen Babys vom Boot. Du schaust dir das an und du kannst einfach nicht helfen. Du willst helfen, aber du musst schauen, dass du dir erst mal selber hilfst. Und du schreist und wünschst dir, du könntest sterben. Und dann hast du die ganze Zeit die Stimmen in deinen Kopf. Ich höre sie immer wieder, auch jetzt noch."
Neramin Arafet ist seit drei Monaten auf der Flucht. Sie hat Mutter, Vater und zwei Brüder in Syrien verloren. Auch ihr Freund hat die gesamte Familie verloren. Sie will eigentlich gar nicht mehr weiterleben, aber nach dem Gespräch mit Psychologin Aliki Meimaridou will sie ihren Weg weitergehen. Wohin er sie auch hinführt. Sie solle daran festhalten, was es jetzt gibt. An ihrem Leben und an ihrem Freund, der sie so dringend braucht. Die Psychologin weiß aus Erfahrung, dass die Menschen in Ausnahmesituationen ungeheure Kräfte entwickeln können. Und diese versucht sie bei ihnen zu aktivieren.
"Die Flüchtlinge, die aus den Kriegsgebieten nach Europa kommen, erlauben es sich nicht so leicht zusammenzubrechen. Hier setzen wir an. Ich will sie noch mehr stärken, ihnen Zuversicht vermitteln. Wer seine Familie bei sich hat, den erinnere ich daran, wie sehr er noch gebraucht wird. Das gibt Kraft. Denn die Menschen befinden sich ja erst am Anfang ihrer Reise, wenn sie in Griechenland angekommen sind."
Ihre Erfahrungen hat die junge Psychologin bereits überall sammeln können. Mal auf der Insel Kos, dann auf Lesbos, in Ostgriechenland im Grenzgebiet zur Türkei und neuerdings auch in Idomeni an der Grenze zu Mazedonien. Jeder Arbeitstag ist anders. Sie ist zuständig für das gesamte Ärzteteam der Psychologen vor Ort. Die Psychologen sind vorwiegend dafür da, eine Atmosphäre der Sicherheit zu schaffen, die Menschen aufzuklären, wo und bei wem sie welche Hilfe erhalten können. Nach den Gesprächen mit den Flüchtlingen, kommt es aber auch vor, dass sie sich selbst schon mal traurig und hilflos fühlt, weil sie meistens nur zuhören, aber keine Lösung für alle Probleme anbieten kann.
Töten oder getötet werden
"Eine sehr intensive Erfahrung habe ich auf Lesbos machen müssen, als ich zu einer Gruppe junger Palästinenser sprach und sie darüber aufklärte, was unsere Gruppe macht und wo sie Hilfe finden können. Sie erwiderten mir und das hat mich sehr berührt: Sorgt dafür, dass wir wieder in unsere Heimat zurückkehren können, dass es dort wieder lebenswert wird, dann brauchen wir kein Europa."
Ein anderer junger Syrer erklärte ihr, er habe in Syrien nur zwei Möglichkeiten gehabt: entweder zu töten oder getötet zu werden.
"Das, was diese Menschen quält, ist das Gefühl der Ungerechtigkeit. Fast alle sagen, sie wollten nie weggehen. Sie hätten nie den Traum von Deutschland oder von Schweden gehabt. Es war so, dass sie mit dem Krieg in ihrer Heimat einfach nicht mehr leben konnten."
Aliki Meimaridou ist in den vergangenen Monaten mehrmals am Ende ihre Kräfte angekommen. Aber der Gedanke irgendwo anders tätig zu sein, lag fern. Die Organisation der "Ärzte ohne Grenzen" ist ihr als kleines Mädchen bereits vertraut gewesen. Weil ihr Vater regelmäßig dafür gespendet hat. Heute wünschte sie sich, sie könnte bei ihrer Arbeit mehr politischen Druck ausüben. Als Ärztin kann sie erste Hilfe leisten. Doch um eine langfristige Lösung herbeizuführen, müssten die politischen Kräfte der Länder aktiv werden. Und diese, meint Psychologin Aliki Meimaridou, diese arbeiten im Schneckentempo. Deshalb appelliert sie:
"Wir halten uns von politischen Debatten und Meinungen fern, doch ich meine, dass die Länder eine Verantwortung tragen, diesen Menschen einen Platz zu finden, in dem sie sich wieder sicher fühlen können und nicht in menschenunwürdigen Verhältnissen gehalten werden müssen."