Psychopathen als Günstlinge der Evolution

Psychopathen verfügen über eine Fülle guter Eigenschaften - Charme, Konzentration und sogar Mitgefühl. Mit diesem Paket an Fähigkeiten gelinge es dem Serientäter, den Schmerz am Opfer genau zu platzieren, meint der Psychologe Kevin Dutton.
"Tief in mir" - der Anwalt lächelt den Autor mit eisblauen Augen an - "lauert ein Serienmörder. Aber ich halte ihn bei Laune. Mit Sex und Koks und brillanten Kreuzverhören."

Psychopathen leben mitten unter uns - und sind nicht anders als du und ich. Mit dieser provozierenden These wartet das neue Buch "Psychopathen" von Kevin Dutton auf. Der Experte für extreme Persönlichkeiten entführt seine Leserinnen und Leser in die düstersten Winkel der menschlichen Seele und schneidet scheinbare Normalität dagegen: Anwälte und Firmengründer, Chirurgen und sogar buddhistische Mönche.
Sozial akzeptierte Helden und Psychopathen sind einander nicht unähnlich, so der Autor. Der Flugzeugpilot, die durchs Feuer gehende Heilige, der Operateur am offenen Herzen - sie alle wären ohne innere Härte und unbedingte Handlungsbereitschaft nicht denkbar. Wie Kevin Dutton in sieben Kapiteln herausarbeitet, hat die Evolution solche Eigenschaften beim Menschen sogar begünstigt. Letztlich leidet der kriminelle Psychopath an einem Zuviel des Guten: Sein übergroßer Charme frisst das Opfer mit Haut und Haaren. Sein Übermaß an Furchtlosigkeit und mentaler Stärke sprengt sämtliche moralischen Grenzen. Seine hohe Konzentrationsfähigkeit blendet Skrupel vollends aus. Seine Achtsamkeit wittert jede Gefahr, so dass er der Polizei wie Quecksilber ausweichen kann.

Nicht einmal an Mitgefühl mangelt es psychopathisch gestrickten Persönlichkeiten, belegt der Autor mit interessanten Studien: Wenn ein Forscher im dichten Stadtgetümmel vorgibt, auf subtile Weise in Not zu sein - mit einem kleinen körperlichen Handicap beispielsweise eine Tasche nicht gut öffnen zu können - springen Personen mit ausgeprägt-psychopathischen Eigenschaften eher zur Hilfe. Der gewöhnliche Mitbürger hingegen bemerkt die Notlage gar nicht erst. Solche Forschungsergebnisse führen das Buch zu einem ungemütlichen Fazit: Schieres Mitgefühl erlaubt es dem sadistischen Serientäter, den Schmerz am Opfer genau zu platzieren.

Seinen Nervenkitzel-Stoff weiß Kevin Dutton dramaturgisch abwechslungsreich zu präsentieren: Er wirft spannende Frage auf, enthüllt häppchenweise, wie Forscher Licht ins Wissensdunkel bringen, taucht in die Katakomben von Hochsicherheitsgefängnissen ein, wo er finsteren Gestalten persönlich begegnet, schnallt sich in Apparaturen, die sein Gehirn mit elektrischen Tiefenströmen kurzfristig ins Psychopathische transformieren ("Selten fühlte ich mich so wenig verheiratet").

Dass der Autor eine Psychologie jenseits von Hirnforschung und Evolutionsbiologie nicht kennt, mag sein Tunnelblick-Beitrag zu einer Wissenschaft sein, deren Fokussiertheit gleichfalls leise überdrehte Züge trägt. Dass er sich von seinem eigenen Erzähltalent blenden lässt, hätte das Lektorat nachbessern können. Nicht selten wirkt sein Stil versnobt und er türmt atemlos Story auf Story. Fünfzig Seiten weniger und mehr Mut zur Gliederung hätten dem Stoff gut getan. Dennoch: Kleine Stilfehler bringen "Psychopathen" nicht um.

Besprochen von Susanne Billig

Kevin Dutton: Psychopathen - Was man von Heiligen, Anwälten und Serienmördern lernen kann
Aus dem Englischen von Ursula Pesch
dtv Verlag, München 2013
320 Seiten, 14,90 Euro