Wenn Gott und Teufel um die Seele ringen
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Psychosen gehen häufig mit religiösen Wahnvorstellungen einher. Einige Erkrankte sind davon überzeugt, selbst Jesus, Gott oder der Teufel zu sein. Letztlich gehe es dabei um existenzielle Fragen des Menschseins, erklären Therapeuten.
"In meiner ersten Psychose war es so, dass ich das gemischt erlebt habe", sagt Klaus Nuißl. "Anfangs habe ich erlebt, dass sich meine Grenzen so langsam auflösen. Ich habe mich mit allem eins gefühlt, sehr geborgen, in einen gemeinsamen Sinnzusammenhang eingebettet. Alles hatte eine symbolisch geheime Bedeutung. Es war anfangs gar nicht negativ, das war anfangs nur ein positives Erleben, das ich hatte."
Das Gefühl, Gott nah zu sein
Nuißl war 19 Jahre alt, als er seine erste Psychose hatte, während eines Urlaubs in Venedig. Er war nicht besonders fromm, hatte sich aber als junger Mann mit religiösen und philosophischen Fragen auseinandergesetzt. Die Psychose, die er damals durchlebte, war durchaus religiös geprägt:
"Ich habe auch in der Rückschau immer wieder das Gefühl gehabt, dass Gott mir sehr nah gekommen ist in der Zeit, oder dass ich da irgendwie was erleben durfte, was mich da irgendwie drauf hingewiesen hat, dass es vielleicht Gott auch gibt, dass so eine Berührung stattgefunden hat."
Wenn die Vorstellung zur Gewissheit wird
Im Wahn verschieben sich Fiktion und Realität, sagt Ronald Mundhenk. Der evangelische Theologe war drei Jahrzehnte lang Seelsorger einer psychiatrischen Klinik im Ostseebad Heiligenhafen. Bei einer Psychose oder Schizophrenie würden die Wahnvorstellungen im Kopf von Patientinnen und Patienten zur Gewissheit, erklärt Mundhenk:
"Wenn ein Patient einen Wahn ausgebildet hat, zum Beispiel in der Weise, dass er glaubt, der liebe Gott oder ähnliches zu sein, dann ist das oft mit einem starken Gewissheitsgefühl verbunden und verfestigt sich zunehmend, wird dann unter Umständen auch verteidigt gegenüber anderen, die das bestreiten wollen."
"Ich habe auch solche Identifikationen gehabt", sagt Klaus Nuißl, "und das ist natürlich etwas, was einem schrecklich peinlich ist, wenn man das realisiert, wenn man sich für Jesus gehalten hat." Der heute 40-jährige Nuißl hat mehrere psychotische Episoden erlebt:
"Ich habe auch meine Mitpatienten genervt und habe sie dann mit 'Heiliger Reiner' und was weiß ich angesprochen, immer mit dem Vornamen und dann das 'Heilig' davor. Ich glaube, auch für die Mitpatienten war das manchmal eine ganz schöne Qual, und da war das schon sehr religiös geprägt, was ich erlebt habe."
"Kreuzigung" im Krankenhausbett
Während einer dieser Erkrankungen war der Regensburger davon überzeugt, Jesus zu sein. "Ich habe zum Beispiel auf der Station mich selber freiwillig fixieren lassen", erinnert sich Nuißl, "weil ich das Gefühl hatte, das hätte etwas mit einer Kreuzigung zu tun. Also, dass das eine Art Kreuzigung wäre in dem Moment."
Der ehemalige Klinikseelsorger Ronald Mundhenk erklärt sich die religiösen Bezüge vieler Psychosen und Schizophrenien damit, dass Menschen in derartigen Krisen mit "Grundfragen des Daseins" konfrontiert seien.
"Diese Grundfragen spielen in der Religion eine ganz entscheidende Rolle", so Mundhenk, "und die werden eben von psychisch kranken Menschen, insbesondere von schizophrenen Menschen, in einer besonders intensiven Weise dann auch reflektiert."
Wer kann mich noch retten, wenn nicht Gott?
"Das sind schon die Konflikte, die man hat, auch in Psychosen", sagt Klaus Nuißl, "die Ängste, die Schmerzen, die man oft hat, weil das, was man erlebt, nicht mehr aushaltbar ist, sodass man sich auf seine eigene Wahrnehmung zurückzieht, ohne, dass das bewusst passiert."
Es gehe um existenzielle Krisen, "die einen ganz stark im tiefsten Inneren berühren", so Nuißl. "Ich glaube, diese Existenzialität macht es aus, dass man sich dann auch die großen Fragen stellt: Gibt es Gott? Gibt es jemanden, der mich rettet? Wer kann mich jetzt überhaupt noch retten aus so einer Phase? Man wendet sich schnell an eine höhere Macht, wenn man in so einem Zustand ist."
Vom Patienten zum Therapiebegleiter
Klaus Nuißl hat nach seiner ersten Psychose und der darauf folgenden Therapie begonnen, Psychologie zu studieren. Heute arbeitet er als Genesungsbegleiter. Als Psychiatrieerfahrener begleitet er Menschen, die psychisch erkrankt sind. Nuißl hat bei seinen psychotischen Episoden eher positive religiöse Assoziationen erlebt, doch inzwischen kennt er auch andere Fälle:
"Es gibt auch Menschen, die von Höllenquallen reden und auch immer wieder erzählen, sie hatten das Gefühl, sie müssten die Welt retten und hatten ganz starke Aufträge, die sie da gefühlt haben. Und wie dann immer wieder das auch gekippt ist und ins ganz stark negative Erleben reingerutscht ist, und die sich dann völlig überfordert, auch sehr gepeinigt gefühlt haben, mit dem, was sie erlebt haben."
Angst, vom Teufel besessen zu sein
Auch Ronald Mundhenk kennt Fälle, in denen der Teufel im Verlauf der Psychose "zu einer unbedingten Realität" wird. "Nicht für alle natürlich", sagt Mundhenk. "Bei manchen spielt er gar keine Rolle. Aber dieses Wechselspiel zwischen Gott und Teufel, Himmel und Hölle ist für viele Menschen, die solche Dinge erlebt haben, dann doch ganz entscheidend wichtig. Bis hin eben zu dem Gedanken, man sei vom Teufel besessen, man sei selber der Teufel."
Menschen mit einer religiösen Sozialisation erleben während Psychosen oder Schizophrenien eher religiöse Wahnvorstellungen als nicht-kirchlich geprägte, sagt der Erlanger Psychiater Joachim Demling. Er verweist auf eine Studie aus den 1980er-Jahren, in der entsprechende Fälle in Niederbayern und im Berliner Osten verglichen wurden.
Ursachen sind oft genetisch und psychosozial bedingt
"Da haben sich signifikante Unterschiede ergeben", sagt Demling. "Es gab religiösen Wahn schon auch in Ost-Berlin, aber wesentlich weniger als im katholisch gefärbten Bayern. Es ist tatsächlich so, dass die kulturellen und glaubensmäßigen Bedingungen sozusagen abfärben."
Bei Psychosen und Schizophrenien geht man von multifaktoriellen Ursachen aus: genetischen wie psychosozialen. Auch intensive religiöse Erfahrungen, wie man sie beispielsweise in charismatischen oder pfingstkirchlichen Gemeinden sammeln kann, können religiöse Wahnvorstellungen begünstigen, meint Ronald Mundhenk:
"Es gibt eben bestimmte religiöse Milieus, die Menschen vielleicht sogar stimulieren zu außergewöhnlichen religiösen Erlebnissen. Wir kennen es zum Beispiel auch aus der Mystik, dass man Gott besonders nah ist oder dass man in eine Identifikation mit Jesus hineinkommt und ähnliches, das gibt es durchaus."
Beten als Krankheitssymptom oder Genesungshilfe?
In psychiatrischen Kliniken stoße man bei Medizinern gelegentlich auf eine Haltung, die alles Religiöse als potenziell krankhaft einordne, klagt der ehemalige Klinikseelsorger. "Es gibt psychiatrisches Personal, das jede religiöse Lebensäußerung vom Patienten schon eher als pathologisch einstuft, auch wenn es völlig normal ist", sagt Mundhenk.
Manchmal gerate schon das Beten unter Krankheitsverdacht. Dabei habe er als Seelsorger die Erfahrung gemacht, dass man gerade Menschen, die unter religiösen Wahnvorstellungen leiden, auf der spirituellen Ebene durchaus erreichen könne.
"Dann gibt es natürlich bestimmte seelsorgerliche Mittel, die hilfreich sein können", erklärt Mundhenk: "dass man segnet, viele wollen auch beichten, es gibt bestimmte Traditionen, auf die man zurückgreifen kann, Rituale, die tragfähig sind. Dass ich sie gesegnet habe und eben auch gesagt habe, vielleicht nicht in der streng ritualisierten Form, 'Gott vergibt dir, deine Sünden sind dir vergeben', das hat für die Patienten oft eine ganz große Bedeutung. Sie können sich sozusagen bergen in überindividuellen Gewissheiten."
Glaube birgt auch Heilungspotential
Klaus Nuißl, der in seinen psychotischen Episoden immer wieder religiöse Wahnvorstellungen erlebt hat, ist heute aktiver Katholik. "Ich bin tatsächlich auch durch die Psychose oder das psychotische Erleben zum Glauben gekommen", sagt er, "oder habe dadurch einen Zugang für mich gefunden."
Wenn er sich in einer psychotischen Phase verloren habe, konnte er sich manchmal nicht mehr spüren, sagt Nuißl. "Dann war vielleicht nur noch Gott da. Dann war vielleicht das, was mich gehalten hat, diese Kraft, so dass ich auch durch so eine schwierige Phase noch durchgekommen bin."
Psychosen hätten häufig mit einem Ich-Verlust, einer "Ich-Störung" zu tun, "so dass man sich selbst gar nicht mehr wahrnimmt", erklärt Nuißl. "Und wenn man davon ausgeht, dass man begleitet durchs Leben geht, dann bleibt vielleicht nur noch Gott übrig am Ende."