Götze im Gotteshaus
Leinwand vor dem Altar, Bierbänke im Kirchenschiff: Im brandenburgischen Ort Goldbeck treffen sich die Einwohner zum Fußball gucken in der Dorfkirche. Ohne das Public Viewing gäbe das kleine Gotteshaus vermutlich nicht mehr.
Vor dem Altar schlägt Christian Dörendahl ein Kreuz, dann klappt er die Beine der Bierbänke und Tische auf. Eine Stunde vor dem Anpfiff trägt er die Sitzgarnituren aus der Kirche hinaus auf den kleinen Vorplatz. Die kleine Fachwerkkirche steht abseits des Dorfes direkt neben der Dosse, einem Bach zwischen feuchten Wiesen. Diese idyllische Lage hat nicht verhindert, dass keiner mehr kam, erzählt Dörendahl.
Der letzte Gottesdienst fand 1984 statt
Dörendahl: "Der letzte Gottesdienst fand 1984 statt. Danach gab es (bis 2005) nur noch Zeremonien zuhause."
Dörendahl, mit Strohhut, grauem Pferdeschwanz und Latzhose, stellt vor der Kirche den Bierkühler auf, schließt die CO2-Flasche an. Gleich daneben den Grill. Mit Rostbratwürsten, Fassbier und Fußball hat er die Kirche aus dem Dornröschenschlaf geweckt. Sonst wäre sie vielleicht gar nicht mehr da.
Dörendahl: "Also es wurde viel kaputtgeschlagen. Bleiverglasung ist kaputtgegangen, innen wurde demoliert, Türen wurden eingetreten."
Wo sonst der Altar ist, singt jetzt die DFB-Elf die Hymne
Die ersten Gäste kommen, holen sich ein Bier, setzen sich an die Tische, fachsimpeln über die Aufstellung. Seit 2006, seit dem Sommermärchen, zeigt die evangelische Gemeinde Dosse-Brausebach und ein paar Fußballfreunde die großen Turniere in der Kirche. Der Taufengel wird dann hochgekurbelt, die Leinwand heruntergezogen. Kurz vor Spielbeginn kommt Nikolai Jünger, der Pfarrer in der Gemeinde. Wo sonst der Altar ist, singen Boateng und Hummels gerade die Hymne. Mutig stellt sich Jünger dazwischen und hält vor fünfzig gespannten Goldbeckern eine ultrakurze Predigt.
Jünger: "Ein deutscher Fan fiel in Paris auf dem Weg zum Fußballspiel, im Prinzenpark, unter die Hooligans. Die zerrissen seine Kleidung, schlugen ihn halbtot und sie ließen ihn in einer Seitengasse liegen."
Eine Anspielung auf die Gewaltausbrüche am Rande der EM-Spiele und eine Abwandlung des Bibel-Gleichnisses vom edlen Samariter. Pfarrer Jünger lässt einen Fußballfunktionär an dem Verletzten vorbeieilen, auch ein deutscher Fan will lieber pünktlich zum Spiel kommen, erst ein holländischer Fan hilft dem Verletzten, versorgt seine Wunden, besorgt ihm ein Zimmer. Pfarrer Jünger fragt in die volle Kirche:
"Wer von den Dreien stand dem deutschen Fan, der von den Hooligans verprügelt wurde, am dichtesten? In diesem Sinne lasst uns hier Gemeinschaft haben und miteinander Hoffen und Bangen. Heute beim Fußballspiel und auch sonst im Leben. Viel Spaß!"
"Ein tolles Zeichen der Gemeinschaft"
Der Schiedsrichter pfeift an, für neunzig Minuten ruhen die Hoffnungen der Kirchgänger weniger auf Gott, viel mehr auf Götze. Pfarrer Jünger räumt das Spielfeld.
Jünger: "Es gab auch schon mal widerwillige Blicke oder widerwillige Äußerungen, so von wegen, jetzt lass mal das Spiel beginnen. Und da denk ich dann manchmal auch, das ist ein bisschen komisch. Was machen wir hier eigentlich? Gehört das hierher? Aber das geht nicht, dass ich das entscheide, sondern die Menschen entscheiden, ob sie hierhergehören, oder nicht. Und allein für die Gemeinschaft, die wir hier haben, und dass die Kirche die Türen aufmacht, für alle, das find ich ein tolles Zeichen der Gemeinschaft für die Leute hier im Dorf."
Geld aus dem Bierverkauf fließt in die Sanierung der Kirche
In der Kirche feiern die 50 Fans jeden gelungenen Spielzug, bedauern jede verpasste Torchance. Draußen sitzen ein paar Goldbecker um den örtlichen Landmaschinenhändler, reden und trinken ein Glas Bier. Die Männer kommen zu fast jedem Spiel. Weil es in Goldbeck keine Kneipe gibt, kann man hier Bekannte und Nachbarn treffen.
Goldbecker: "Ich wollte Bier holen, dann wurde ich hier abgefangen. (lacht)"
Und alle tun ganz nebenbei Gutes. Denn das Geld vom Bier- und Bratwurstverkauf fließt in die Sanierung der Kirche.
Das Spiel ist zu Ende, die Fans aber sitzen noch lange draußen, und werten mit Blick auf Flusswiesen und Sonnenuntergang das Spiel aus. Ab und zu stoßen sie an, auf die Mannschaft und auf die Goldbecker Fußballkirche.