Amerikanischer Kommunist in der DDR
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Victor Grossman erlebte die DDR von ihren Anfängen bis zu ihrer Auflösung 1989. Er war 24, als er von der US-Armee desertierte und in der DDR Zuflucht suchte. Heute ist der Harvard-Absolvent 92 Jahre alt und lebt immer noch in Berlin.
1928 wurde Victor Grossman als Stephen Wechsler in New York in eine linke jüdische Familie hineingeboren. New York sei damals "praktisch eine linke Festung" gewesen. Mindestens ein Drittel, vielleicht auch die Hälfte der New Yorker seien damals Linke gewesen. "Das hat alles auf mich gewirkt, schon seit ich sechs Jahre alt war." Als 12-Jähriger träumte Wechsler davon, als Freiheitskämpfer im Spanischen Bürgerkrieg zu kämpfen. "Das war in der Luft in New York in unseren Kreisen. Der Spanienkrieg begann, als ich neun war. Ich war sehr bewegt davon. Ich schrieb sogar mit anderen ein Stück. Wir haben das gespielt. Aber dort zu kämpfen, da war ich viel zu jung."
Ungelernter Arbeiter mit Harvard-Abschluss
Später erhielt Stephen Wechsler ein Stipendium für die Elite-Universität Harvard und studierte dort Ökonomie und Gewerkschaftsgeschichte. Er habe ein Teil der in den 1930er-Jahren sehr einflussreichen Gewerkschaftsbewegung in den USA werden wollen, erzählt Victor Grossman. Nach seinem Harvard-Abschluss ging Wechsler jedoch zunächst für anderthalb Jahre als ungelernter Arbeiter nach Buffalo. "Als Absolvent wurde ich angesprochen von meinen linken Verbindungen, ob ich doch nicht direkt Arbeiter werden wollte trotz meinem Arbeiterdiplom und ich habe Ja gesagt." Gegenüber seinen Kollegen habe er seinen Harvard-Abschluss verschwiegen. "Wenn ich das nicht verschwiegen hätte, hätte ich die Arbeit nie bekommen. Die wären misstrauisch geworden. Ich habe das absolut verschwiegen und versucht, so gut es ging, nicht zu Harvard-ähnlich zu reden."
Aus Angst vor Anti-Kommunismus desertiert
Zu Beginn der 1950er Jahre leistete Stephen Wechsler seinen Militärdienst und wurde in Bayern stationiert. Seine Mitgliedschaft in kommunistischen Organisationen hatte er vor dem Eintritt in die Armee verschwiegen, weil ihm sonst harte Strafen gedroht hätten: "Als man während des Korea-Krieges eingezogen wurde, musste man unterschreiben, dass man nie Mitglied in einer kommunistischen Organisation gewesen ist. Ich war schon in einem Dutzend gewesen und war immer noch in drei, vier. Aber wenn ich das zugegeben hätte, hätte ich großen Ärger haben können, weil das waren sehr, sehr harte Zeiten." Seit Anfang des Jahres 1950 führte der republikanische Senator Joe McCarthy eine antikommunistische Kampagne an. In Bayern wurde Wechsler dann aber dennoch vor das Militärgericht geladen, weil er sein kommunistisches Engagement verschwiegen hatte: "Da hatte ich so einen Schreck, weil darauf stand bis fünf Jahre Strafe für das Lügen. Und aus Angst vor diesen fünf Jahren bin ich desertiert."
Flucht in die DDR
Stephen Wechsler durchquerte schwimmend die Donau und floh 1952 in die sowjetisch besetzte Zone Österreichs. Wechsler bat darum, den Sowjets übergeben zu werden. Sowjetische Soldaten hätten ihn freundlich aufgenommen: "Ich hatte diesen großen Brief vom Pentagon dabei mit einer Liste der Organisationen, denen ich angehört hatte. Der hat glücklicherweise die Wellen der Donau überstanden." Die Sowjets schickten ihn in die DDR. Dort nahm Stephen Wechsler den Namen Victor Grossman an, um seine Familie in den USA zu schützen.
"Ich fiel immer auf als Amerikaner"
Zunächst wurde Grossman nach Bautzen in das "Haus der internationalen Solidarität" gebracht, wo sich Menschen aufhielten, die aus westlichen Staaten in die DDR geflohen waren. Grossman blieb zwei Jahre in Bautzen und lernte dort auch seine spätere Frau kennen. Grossman durfte studieren und verdingte sich später unter anderem als freier Vortragsredner. Er erklärte seinen Zuhörern die USA und schilderte die USA als "Land von Konflikten". Er sei nicht privilegiert gewesen, sagt Grossman, aber "ich fiel immer auf als Amerikaner". Obwohl er von der DDR aus mit seinem amerikanischen Pass jederzeit die ganze Welt hätte bereisen können, tat Grossman das nie. "Ich bin ja nicht DDR-Bürger geworden. Ich hatte einen Ausweis, der mir erlaubt hat, die ganze Welt zu besuchen, ausdrücklich auch West-Berlin. Hab' ich nie gemacht, weil ich als Deserteur gleich eingesperrt worden wäre. Ich hatte etwas, was viele DDR-Leute so gern gehabt hätten, benutzte es aber nicht."
Spitzeln für die Stasi war nicht seine Sache
Die Stasi sei drei Mal auf ihn zugekommen, erinnert sich Grossman. Einmal habe er eine Zusammenarbeit nicht sofort abgelehnt: "Ich war gegen die Versuche, die DDR kaputt zu machen. Ich dachte, damit tue ich nur meiner Gesinnung nach. Aber ich stellte fest, das war nicht meine Sache, für sie über Leute zu berichten und ich habe das so klar gemacht, dass ich nutzlos für sie wurde." Als die Stasi später seine Kontakte in die USA für sich nutzen wollte, habe er glaubhaft vermitteln können, dass seine Verbindungen zu dort lebenden Menschen für die Stasi uninteressant seien: "Die hatten kein Interesse an zwei Gruppen: alte Leute und bekannte Kommunisten. Ich machte klar, das sind die einzigen Leute, die ich kenne."
(ruk)