Publizist: Victor Orban ist mächtiger als jeder andere europäische Regierungschef

Paul Lendvai im Gespräch mit Liane von Billerbeck |
Ministerpräsident Victor Orban habe alle wichtigen Machtpositionen in Ungarn für die nächsten Jahre mit eigenen Leuten besetzt, sagt der Publizist Paul Lendvai. Deshalb sei eine liberale Wende in Ungarn nicht abzusehen.
Liane von Billerbeck: Seit gut einem Jahr ist Victor Orban und seine nationalkonservative Partei Fidesz in Ungarn an der Regierung und an der Macht. Und die hat sie weidlich genutzt – für eine rechte Revolution. Alle Schaltstellen im Land wurden mit den eigenen Leuten besetzt, Richter pensioniert, Journalisten kaltgestellt, Theaterdirektoren geschasst, international namhafte Künstler verunglimpft.

Seit im Juni die ungarische EU-Ratspräsidentschaft endete, droht die Gefahr, dass Europa die Ereignisse dort völlig aus dem Blick verliert. Wie kommt es, dass ein Victor Orban so erfolgreich durchregiert? An welche ungarischen Affekte knüpft er an? Darüber will ich heute sprechen mit einem der renommiertesten Kenner Ungarns, mit dem Publizisten Paul Lendvai. Geboren 1929 in Budapest, floh er während des Ungarnaufstandes nach Wien, ist Österreicher, war Intendant von Radio Österreich International und er hat zahlreiche Bücher geschrieben; sein jüngstes heißt: "Mein verspieltes Land". Herr Lendvai, ich grüße Sie!

Paul Lendvai: Guten Tag!

von Billerbeck: Sie haben Ungarn ein verspieltes, aber auch ein verführbares Land genannt. Woher kommt diese Verführbarkeit?

Lendvai: Die Verführbarkeit liegt in den tiefen Schichten, die Gründe liegen in den tiefen Schichten der ungarischen Geschichte. Ich glaube, es geht darauf zurück, dass die Ungarn ein isoliertes, sprachlich isoliertes Volk sind in Europa, etwa wie die Albaner, dass sie immer geschlagen wurden in der Geschichte, von der Invasion der Mongolen bis zum Trianon-Vertrag zum Verfall der österreichisch-ungarischen Monarchie, das ist der eigentliche Schlüssel zur Psychologie einer geschlagenen Nation. Jeder dritte Ungar geriet damals unter fremde Herrschaft. Natürlich war das auch eine Quittung für den verblendeten ungarischen Nationalismus beherrschende Nation – früher.

Und diese Vergangenheit führte dazu, dass die ungarische Regierung während des Zweiten Weltkrieges bis zuletzt auf der Seite Hitlerdeutschlands stand, weil man hoffte, die verlorenen Gebiete zurückzugewinnen. Dann hat dieses Land und diese Nation eine Revolution gemacht, 1956, und wurde genauso im Stich gelassen wie 1848 im Kampf gegen die Habsburgermonarchie. Also das alles ist der Grund. Victor Orban ist ein begabter, vielleicht fast genialer Machtpolitiker, noch immer sehr, sehr jung, 48, er benutzt diese historische Erbschaft, um die Leute zu gewinnen durch eine Mischung aus Populismus, Nationalismus und natürlich mit dem Spiel auf dem Klavier der Vorurteile gegen Andere.

von Billerbeck: Als Ungarn im Januar die Ratspräsidentschaft antrat, da brachte Orban ja ein Geschenk mit: einen Teppich mit dem Bild Ungarns in den Grenzen von 1848. War das der stoffliche Ausdruck des Traums vom großmagyarischen Reich?

Lendvai: Es war wahrscheinlich eine Panne, aber es ist das, das den Ungarn – ich weiß nicht, manche sagen fünf Prozent, vielleicht heute mehr, der Autos tragen diese Etikette. Das wäre natürlich in Österreich oder in Deutschland, Versailles oder Saint-Germaine unmöglich. Da gibt es Geschäfte in der Budapester Innenstadt, Buchhandlungen, wo Sie alles kaufen können, das in der Zwischenkriegszeit erschienen ist: schlimme Bücher, die zur Infektion der jungen Generation beitragen. Das heißt, das war vielleicht eine Panne, aber eine symbolische Panne.

von Billerbeck: Die Schriftstellerin Esther Kinsky, die hat bei uns im Gespräch gesagt – sie lebt ja einen Teil des Jahres in Banat –, und sie hat von der tiefen Kluft gesprochen zwischen den ungarischen Intellektuellen und der abgehängten armen Landbevölkerung. Ist das auch der Humus, aus dem sich die Skepsis gegen alles Intellektuelle und Künstlerische speist, die Victor Orban damit auch bedienen kann?

Lendvai: Es ist zu vordergründig. Die Umfragen und die Diskussionen mit den Professoren zeigen, dass zum Beispiel der Jobbik, der offen ausspricht, was viele, viele Leute nicht offen sagen würden, die rechtsradikale Gruppe, die ja 49 Abgeordnete heute im ungarischen Parlament hat, die ist besonders stark zum Beispiel bei den jungen Leuten – den jungen Leuten unter 30. Da ist Jobbik zweimal so stark wie etwa die Sozialisten, und an den Universitäten. Das ist eine Tradition, die auf die Zwischenkriegszeit, und nicht nur in Ungarn, sondern in Mitteleuropa, zurückgeht. Natürlich gibt es eine Kluft, aber irren Sie sich nicht! Ein Teil der Mittelklasse und ein Teil der Intelligenz unterstützt aus ganzem Herzen zumindest bisher diesen Kurs!

von Billerbeck: Wie ist es denn Victor Orban gelungen, gerade die Mittelschicht zu gewinnen?

Lendvai: Victor Orban ist erstens jung; er war schon der jüngste Ministerpräsident Ungarns in 1998. Damals wollte er auch das machen, was er heute tut, aber damals waren die Gegner, die Sozialisten und die Liberalen, stärker. Es ist ihm gelungen durch die Vorbereitung des Humus, des Grundes, des Bodens, durch die unglaubliche Korruption und Machtkämpfe innerhalb der sozialistischen Partei, durch die Unfähigkeit der Liberalen, eine konstruktive Politik zu betreiben und die dadurch ausgelöste tiefe Enttäuschung der Ungarn, auch der liberalen Ungarn, mit diesen Regierungen. Darüber hinaus hat er natürlich mit unglaublich scharfen Mitteln gekämpft, zum Beispiel alle Abgeordneten zogen aus dem Parlament heraus, als der damalige Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány das Wort ergriff.

von Billerbeck: Nun hat ja Orban 53 Prozent bekommen – man könnte sagen, nur, bei den Parlamentswahlen 2010. Kann er – wenn ich das höre, was Sie da beschreiben – bei den nächsten Wahlen vielleicht eine viel größere Stimmenzahl auf sich vereinen?

Lendvai: Man muss dazu sagen, dass 36 Prozent der Ungarn nicht zu den Wahlen gegangen sind, und es scheint, dass heute die Partei der Nichtwähler immer stärker, möglicherweise Nummer eins sein wird. Zweitens, man hat dadurch 66, 67 Prozent Mandate bekommen, und da ist Jobbik, also die rechte und extreme rechte Übermacht ist unglaublich. Jetzt wird ein neues Gesetz vorbereitet.

Erstens, technisch, zwei Phasen Wahlen werden durch eine Phase ersetzt, zweitens, sie wollen auch den Ungarn – es gibt circa zweieinhalb Millionen Ungarn in den Nachbarländern – ungarische Staatsbürgerschaft und Wahlrecht geben. Dadurch könnte man noch zusätzliche Stimmen oder Mandate bekommen. Ich halte das für durchaus möglich, dass dank dem neuen Wahlgesetz und dank der Unfähigkeit der Sozialisten und der Linken und der Liberalen, eine Einheitsfront zu gründen, Orban bei den nächsten Wahlen noch mehr Stimmen bekommen wird. Aber ich glaube, das ist eigentlich völlig unwichtig. Alle Machtpositionen sind fest besetzt, im Gegensatz zu manchen verbitterten oder hoffenden ungarischen Intellektuellen glaube ich nicht, dass in absehbarer Zeit in Ungarn eine Wende in Richtung liberalerer Kräfte erfolgen wird.

von Billerbeck: Das heißt, selbst wenn es denn eine Einheitsfront geben würde – was ja bisher nicht in Aussicht ist –, dann sind alle Positionen so festgeklopft auf Jahre durch die Leute Orbans, dass ein Wandel schwer vorstellbar scheint?

Lendvai: Schauen Sie, die Medien sind in der Hand eines fünfköpfigen Rates, geführt von einer Fidesz-Dame mit nicht sehr starken – da will ich mich nicht stärker ausdrücken – beruflichen Erfahrungen, für neun Jahre, sie können wieder gewählt werden. Der oberste Staatsanwalt, der war schon einmal ein Fidesz-Soldat, ist auch für neun Jahre, die Verfassungsrichter werden für zwölf Jahre – alle Positionen werden so ausgebaut, dass auch, wenn Fidesz nur die "absolute Mehrheit" gewinnen würde, auch dann bleiben sie fest verankert in der Machtposition, außerdem werden die wichtigsten Gesetze im Sinne der neuen Verfassung, nur mit Zweidrittel-Mehrheit können sie geändert werden. Da schaut es wirklich sehr gut für die Fidesz-Regierung und vor Allem für Victor Orban aus. Victor Orban hat heute nach meiner Meinung eine stabilere, mächtigere Position als jeder andere Regierungschef im demokratischen Europa.

von Billerbeck: Sie haben auch davon gesprochen, dass Ungarn in Europa auch sprachlich isoliert ist, wie Albanien. Hieße das, der Protest wäre lauter seitens der Europäischen Union, wenn wir endlich alle Ungarisch verstünden, sprechen würden und viel mehr wahrnehmen würden, was da passiert?

Lendvai: Damit haben Sie völlig recht! Ein großer ungarischer Pianist, András Schiff, hat die beste, konzise Meinung veröffentlicht, als er sehr beschämt und bedroht wurde wegen eines Leserbriefes an die "Washington Post". Er hat gesagt: Wenn die Leute ungarisch verstehen würden, wäre es ein Weltskandal, wie zum Beispiel die dem Fidesz nahestehenden Blätter und ihre Starjournalisten schreiben, das ist unglaublich! Verglichen mit diesen Zeitungen und vor allem mit diesen Artikeln ist die deutschnationale Soldatenzeitung fast wie "Le Monde"!

von Billerbeck: Das sagt der Publizist Paul Lendvai. Ganz herzlichen Dank für das Gespräch!

Lendvai: Bitte schön!


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