Pulverfass mit Perspektive

Von Mirko Schwanitz und Ani Matevosyan |
Abchasien ist ein kleiner Streifen Land am Schwarzen Meer mit einer Einwohnerzahl kaum größer als Kassel. Die Region gilt allerdings als diplomatisches Sudoku des höchsten Schwierigkeitsgrades. Das deutsche Außenministerium warnt vor Reisen nach Abchasien.
Sanft rauscht der Inguri unter einer langen Brücke hindurch. Gelangweilt starren georgische Grenzposten auf das Wasser. Ein alter Mann wartet mit seinem klapprigen Pferdewagen auf Passanten, die er über die Brücke fahren kann, hinüber auf die abchasische Seite. Zwei schwarzgekleidete Georgierinnen mit schweren Taschen sitzen bereits unter der Wagenplane und kauen Sonnenblumenkerne:

"Die Brücke ist einen Kilometer lang und wurde 1944 von deutschen Kriegsgefangenen errichtet. Die Leute nennen sie den Weg zur Hölle."

Erzählt eine der Frauen. Lange Jahre markierte der Inguri nur eine Verwaltungsgrenze zwischen der georgischen Provinz Mingrelien-Semoswanetien und der zu Georgien gehörenden autonomen Republik Abchasien, die 1991 ihre Unabhängigkeit erklärte. Die Versuche Georgiens, sich das Gebiet zwischen 1992 und 1994 mit Gewalt zurückzuholen scheiterten, forderten 8.000 Tote und 20.000 Verletzte. Über 200.000 in Abchasien lebende Georgier wurden vertrieben. Viele Familien wurden auseinandergerissen, sagte die Frau, ohne jedoch eine Regung erkennen zu lassen.

"Nach diesem Konflikt hat sich die Brücke in eine Ländergrenze verwandelt. Eine Zeit lang gab es hier sogar einen Autobus der UNO. Mit dem konnten die Leute wenigstens kostenlos hinüberfahren."

Vorbei - als Georgien 2008 versuchte, seine ebenfalls abtrünnige Provinz Süd-Ossetien mit Gewalt zurückzuerobern, rückten abchasische Truppen in das letzte von der georgischen Zentralmacht kontrollierte Gebiet Abchasiens ein und rief dann Russland zu Hilfe. Moskau erkannte nun nicht nur Süd-Ossetien, sondern auch Abchasien als souveräne Staaten an, übernahm die Grenzsicherung und blockierte per Veto eine Ausweitung der UN-Mission, die bis dahin den 2004 zwischen in Georgien und Abchasien geschlossenen Waffenstillstand überwachte. Seitdem ist alles noch schwieriger geworden, schüttelt die Frau ihren Kopf, dass die schwarzen Kopftuchzipfel flattern:
"Heute haben wir nur noch Pferde als Transportmittel. Und diejenigen, die sich die paar Lari nicht leisten können, müssen den Kilometer zu Fuß gehen, egal ob es regnet, schneit oder so fürchterlich heiß ist wie heute, das spielt keine Rolle."

Nur wenige Kilometer von der Grenze entfernt liegt Gali, Hauptstadt der gleichnamigen abchasischen Grenzprovinz. Bald wird klar, warum die Leute die Brücke, den Weg zur Hölle nennen. Am Ortseingang ragen ein Jahrzehnt nach dem Krieg noch immer Ruinen in den Himmel, aus den Ritzen wuchern Sträucher.

"Das da, sagt der Fahrer, und zeigt auf ein verfallenes Gebäude, ist unser Krankenhaus. …. Und dort gibt es ein Restaurant … hier ist eine Schule … Das blaue Gebäude hier, diese alte Kaserne, war mal der UN-Stützpunkt. 17 Jahre lang. Aber die Russen wollten die UN nicht hier haben. Den Leuten ist die Politik schon egal, die wollen einfach nur leben."

Die Leute in Gali haben Angst, hat die Frau vom Grenzübergang zum Abschied noch gesagt. 40.000 Georgier leben nach Angaben der Verwaltung in der Provinz, die Zahl der Abchasier aber soll kaum mehr als 200 betragen. Und doch besetzen die sie alle Schlüsselpositionen.

Mit der Dunkelheit leert sich Gali schnell. Autos mit getönten Scheiben tauchen auf. Wer nicht muss, geht nicht mehr auf die Straße. Zu Gast in einem halb fertigen Haus. Die georgischen Gastgeber tischen auf, was Garten und Stall hergeben. Melonen und Räucherfleisch, dazu ein Selbstgebrannter. Ihre Namen möchten auch sie nicht genannt wissen. Die hochgewachsene, hagere Großmutter schneidet Gurken und Tomaten. Ihr fünfzigjähriger Sohn dreht sich mit rissigen Händen eine Zigarette und starrt wortlos auf den Fernseher:

"Vor dem Krieg hatten wir ein großes Haus mit fünfzehn Zimmern. Es ist komplett ausgebrannt, nur die Badewanne konnten wir retten. Achtzehn Jahre haben wir dann in der Garage gelebt. Jetzt versuchen wir das Haus wieder aufzubauen, aber wer weiß, wann wir damit fertig werden"

Auf dem Bildschirm ist Wahlkampf. Im Mai war der amtierende Präsident Bagapsch gestorben. Nun bewerben sich drei Kandidaten um die Nachfolge. Die besten Chancen haben Premierminister Sergey Schamba und der national-liberale Interimspräsident Alexander Ankwab. Ankwab, so fordert der Moderator im Fernsehen, solle sich dazu äußern, dass der Chef der Provinzregierung in Gali die Bevölkerung aufruft, für seinen konservativen Kontrahenten Sergey Schamba zu stimmen. Ankwab, der den Spitznahme "Hopkins" trägt, weil er ein wenig wie der bekannte Schauspieler aussieht, verurteilt das Verhalten als Amtsmissbrauch.

Seit Bagapsch tot ist, führt Ankwab die Amtsgeschäfte vom abchasischen Regierungssitz Suchumi aus. Bagapsch war 1994 mit den Stimmen der damals noch wahlberechtigten Georgier ins Amt gewählt worden, weil er ihnen einen erleichterten Zugang zu abchasischen Pässen versprochen hatte. Dann konnte er sich aber nicht gegen die nationalistisch gesinnte Opposition durchsetzen. Heute dürfen nur Besitzer abchasischer Pässe wählen und gerade einmal 6.000 der 40.000 Georgier sollen einen solchen besitzen – Zahlen, deren Wahrheitsgehalt sich kaum überprüfen lassen.

Das alles interessiere hier niemanden, meint die georgische Gastgeberin, während sie den Tisch abräumt. Aber, ohne einen solchen Pass bekommt man hier keinen Job, darf nicht studieren und auch nicht wählen. So ist die Mehrheit der georgischen Minderheit in Abchasien bis heute von vielen Bürgerrechten abgeschnitten. Der Abchase Bagapsch, sagt plötzlich ihr Sohn aus den Tiefen seines Sessels, habe erkannt, dass wir Georgier nicht ausgegrenzt werden dürfen. In einem Interview habe er eine solche Politik sogar als faschistisch gebrandmarkt. Jetzt sei er tot und niemand wisse, was passieren wird, denn alle Kandidaten schlichen um dieses Thema wie eine Katze um den heißen Brei.

Von all den Problemen merken die Touristen in der 77 Kilometer entfernten Hauptstadt Suchumi, oder Suchum, wie sie auf abchasisch heißt, gar nichts. Es sind vor allem Russen, die in Scharen auf der Strandpromenade flanieren, sich am Strand sonnen, in einem der vielen Cafés starken abchasischen Mokka genießen oder einer der mit roten Wimpeln bewaffneten Stadtführerinnen folgen:

"Als Gott die Erde erschuf, kam der Abchase zu spät. Alle Plätze waren schon vergeben. Gott fragte ihn, warum er so spät komme. Nun, sagte der Abchase, er habe Gäste gehabt, die er unmöglich allein lassen konnte. Für diese Gastfreundschaft gab Gott dann dem Abchasen ein Stück vom Paradies. Er sagte ihm aber auch, dass er ständig um dieses kleine Land kämpfen müsse und vieles dafür verlieren würde."

Die 45-jährige abchasische Schriftstellerin Gundua Sakanina, erzählt in ihrer stillen Wohnung am Rande der Stadt verschmitzt die Legende, wie die Abchasier zu ihrem Land kamen - jenem 210 Kilometer langen Streifen zwischen Georgien und Russland, zwischen hohen Kaukasus-Gipfeln und der Ostküste des Schwarzen Meeres. Das subtropische Klima, fruchtbare Erde und weiße Strände machten die autonome Sowjetrepublik einst zur "Cotè d ‘Azur" des Ostblocks. Traumziel für verdiente Arbeiter, vor allem aber Ferienort für große und kleine Funktionäre der Nomenklatura.

Doch mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor 20 Jahren verfiel das Paradies. Erst als Russland 2008 begann, Unmengen von Geld in die kleine Republik zu pumpen, bewegt sich wieder etwas. Gundua Sakanina nestelt an ihrer dicken weißen Perlenkette und erzählt mit leiser Ironie in der Stimme, dass es natürlich toll sei, auf einer neuen Straße von Suchumi ins russische Sotschi zu fahren und die langsame Wiedergeburt des alten, mondänen Suchumi zu bestaunen:

"Aber was nützen neue Straßen? Was nützt es, wenn nur die Stadt sich verändert? Wenn nur sie wie neugeboren wirkt? Was nützt es, wenn sich dabei das Leben der Menschen weiter so schwer bleibt wie bisher?"

Die Fischer an der Strandpromenade und die Verkäufer auf dem Markt von Suchumi haben trotz allem Hoffnung. Klein und rund und mit fröhlichem Lachen steht Swetlana Petrowna hinter ihrem zerbrechlichen Backstand, der unter der Last weißer, brauner und grauer Brote ächzt, die sie in der Nacht gebacken hat:

"Na ja, das Leben ist überall schwer, nicht wahr? Aber ich will nicht klagen. Die Leute kommen von den Dörfern, verkaufen hier ihr Obst und kaufen mein Brot. Vor allem die alten Leute haben es sehr schwer, denn von 500 Rubeln abchasischer Rente kann hier niemand leben. Zum Glück bekommen die Alten jetzt auch Renten aus Russland. Das haben wir nur Medwedjew und Putin zu verdanken."

Tatsächlich zahlt Russland seit 2008 ehemaligen Sowjetbürgern eine zusätzliche Rente. Und weil Brotverkäuferin Swetlana Petrowna wie 90 Prozent aller Abchasen auch einen russischen Pass besitzt, darf die 55-jährige sich schon bald schon selbst auf eine höhere Rente freuen. Bis zu 5.000 Rubel, umgerechnet immerhin 170 Dollar zahlt Russland Abchasiens Rentnern monatlich. Mit der Vergabe von Pässen machte Moskau die Abchasen so gleichsam zu russischen Staatsbürgern und konnte bei seinem Engagement in Abchasien wie schon in Süd-Ossetien den Schutz russischer Staatsbürger geltend machen. Dennoch begreifen viele Abchasier, dass Russlands Schutz nicht selbstlos ist. Es geht Moskau in Abchasien um ganz andere Dinge, meint Autorin Gunda Sakanina und zuckt etwas hilflos mit den Schultern:

"Wir sind doch nur ein Karte in einem Spiel. Das finde ich sehr schade und es tut mir ziemlich weh."

Ein wenig von diesem Spiel kann sehen, wer vom Regierungsgebäude aus übers Wasser schaut. Es befindet sich in einem sandgestrahlten Stalin-Bau an der Uferpromenade, auf der Pomeranzenbäume einen süß-bitteren Geruch verströmen. Auch hier wird modernisiert. Der Lärm dringt bis zu Maxim Gwindschija. Das Büro des 35-jährigen jugendlich wirkenden Außenministers befindet sich in der zweiten Etage. Seine Fenster öffnen sich zur Innenstadt, sodass man die schemenhaften Silhouetten der Kriegsschiffe draußen auf dem Meer nicht sehen kann. Machtpoker nennt sich das Spiel, in dem Russland einen Teil seiner Schwarzmeerflotte näher an die georgische Küste verlegt. Abchasien hat Moskau dafür in einem 2010 geschlossenen Pachtvertrag den Hafen Otschamtschira überlassen. Die NATO erklärte, dass dieser Vertrag völkerrechtlich ungültig ist. Das nützt Georgien jedoch gar nichts. Tiblissi wird es jetzt schwerer haben, seine Seeblockade uns gegenüber aufrecht zu halten, sagt Gwindschija hinter seinem noch neu riechenden Schreibtisch und ist bemüht, seiner Stimme Nachdruck zu verleihen:

"Ich bin der Meinung, dass wir weder von Europa noch von den USA fair behandelt werden. Wir werden nicht als gleichberechtigt wahrgenommen und die internationale Norm, dass jedes Volk ein Recht auf seine Unabhängigkeit hat, scheinen in unserem Fall keine Bedeutung zu haben. Ich glaube noch immer, das Georgien das Problem hier militärisch lösen will. Als im Frühjahr 2008 internationale Beobachter hier waren, habe ich sie vor einem militärischen Eingreifen Georgiens in Süd-Ossetien gewarnt. Aber diese Beobachter meinten, dies sei überhaupt nicht realistisch."

Allein die Hälfte des abchasischen Budgets kommt aus Moskau. Und die Olympischen Winterspiele, die 2014 im nur 100 Kilometer entfernten russischen Sotschi stattfinden, könnten sich für die kleine Möchtegern-Republik als wahrer Glücksfall erweisen. Vielleicht hat das Internationale Olympische Komitee damit mehr für den Frieden der Region getan, als alle UN-Missionen zuvor. Abchasien soll Hunderttausende Tonnen Baumaterialien, vor allem Sand, Kies und Beton für die Olympischen Spiele liefern. Das riecht nach Geschäft. Wie sagte doch der national-liberale Präsidentschaftskandidat Ankwab: Abchasien habe das Zeug, ein zweites Monaco zu werden. Bis dahin, so meint Außenminister Maxim Gwindschija, sei es zwar noch ein weiter Weg. Schließlich gebe es in seinem Land noch nicht einmal einen Bankautomaten. Aber dafür viel Hoffnung auf bessere Zeiten:

"Die Lösung ist, dass man uns einfach in Ruhe lässt. Wir wollen nur eines, uns entwickeln, wirtschaftlich und kulturell."
Mehr zum Thema