"Die Stimme des Protests ist die Stimme der Frauen"
Als "von der Norm abweichende Lesbe" kann sich die russische Aktivistin Mascha Alechina mit dem gängigen Frauenbild im heutigen Russland wenig identifizieren. Das Mitglied von Pussy Riot will aber dennoch ihren Humor nicht verlieren.
"Als ich zum ersten Mal über die Rolle der Frauen nachgedacht habe, muss ich so zehn oder elf Jahre alt gewesen sein", sagte die russische Aktivistin der Gruppe Pussy Riot, Mascha Alechina, im Deutschlandradio Kultur. Die Lehrer hätten die Klasse in Jungen und Mädchen aufgeteilt. Die Jungen sollten ein Möbelstück bauen und die Mädchen hätten nähen lernen müssen. Sie habe das Nähen gehasst. "Ich war sauer und von da an begannen meine guten Zensuren abzusacken, weil ich mich weigerte, das zu tun." Danach habe sie begonnen, alles zu lesen, was sie zu diesem Thema habe finden können.
"Women´s March" als stärkster Kommentar
"Die Frauen hatten ihren Platz in der Revolution", sagte Alechina. "Aber ich glaube auch, dass wir nicht noch einmal genau so etwas brauchen, sondern etwas Neues." Wer nach Russland fahre könne sehen, dass überall noch die Lenin-Statuen herumstünden, die nichts mehr bedeuteten. "Ich glaube wir brauchen etwas Neues." Wenn man sich die aktuelle Weltlage ansehe, stelle man fest, dass der "Women´s March" der größte und stärkste kulturelle Kommentar zur jetzigen Situation sei. "Die Stimme des Protests ist die Stimme der Frauen."
Aktion von Pussy Riot
Als Mitglied der anarcho-feministischen Gruppe Pussy Riot hatte Mascha Alechina international im Februar weltweit Aufsehen erregt, nachdem sie zusammen mit ihren Mitstreiterinnnen Nadeschda Tolokonnikowa und Jekaterina Samuzewitsch in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale mit einem "Punk-Gebet" gegen Putin und den Patriarchen Kyrill I. angesungen hatte. Die Aktivistinnen wurden nach einem umstrittenen Gerichtsverfahren zu Lagerhaft verurteilt, was internationale Proteste auslöste. Sie wurden Ende 2013 dank einer Amnestie freigelassen.
Die Gruppe Pussy Riot soll am 17. März beim New Yorker Festival Spring Revolution auftreten. Das Stück "Revolution" ist eine Adaption der Autobiographie von Alechina, die selbst auf der Bühne steht.
Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Das hier ist die Sendung "Studio 9" am Morgen, in der es heute wie auch anderswo in unserem Programm intensiv um den 100. Jahrestag der Februarrevolution in Russland geht. Sie finden unsere Berichterstattung auch im Internet, unter deutschlandradiokultur.de. Und ich habe mich schon vor der Sendung über dieses Thema unterhalten mit Mascha Alechina. Sie ist Mitglied von Pussy Riot, war auch an der Protestaktion in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale beteiligt, hat zwei Jahre in Arbeitslagern verbracht deshalb.
Und ich habe mich mit ihr über die Februarrevolution unterhalten, weil bei dieser Revolution vor 100 Jahren Frauen eine ausgesprochen wichtige Rolle gespielt haben. Sie waren nämlich am 8. März unseres Kalenders – 23. Februar des damaligen russischen Kalenders – die Ersten, die auf die Straße gingen, um gegen ihre Lebensbedingungen zu protestieren. Ich selber, muss ich zugeben, habe das bis vor relativ kurzer Zeit überhaupt nicht gewusst und deshalb habe ich Mascha Alechina auch als Erstes gefragt, wann genau sie das eigentlich erfahren hat, ob das beispielsweise schon zu ihrer Schulzeit gewesen wäre.
Mascha Alechina Ich glaube nicht, dass ich bereits alles gelernt habe, was damit im Zusammenhang steht, ich lerne immer noch Neues dazu. Ich mag unsere Schulbildung nicht besonders, sie konzentriert sich zu sehr auf die Norm, auf die Normalität. Mir als einer von der Norm abweichenden Lesbe gefällt das nicht. Als ich zum ersten Mal über die Rolle der Frauen nachgedacht habe, muss ich so zehn oder elf Jahre alt gewesen sein. In der Schule teilten die Lehrer die Kinder damals in Jungen und Mädchen auf: Die Jungen sollten irgendein Möbelstück bauen und die Mädchen mussten Nähen lernen. Ich habe dieses Scheißnähen gehasst und habe nicht verstanden, warum ich das lernen sollte. Aber die Lehrer haben alle gesagt, dass es notwendig ist, dass Mädchen kochen und nähen lernen und über alle Varianten der Hausarbeit Bescheid wissen. Ich war sauer. Und von da an begannen meine guten Zensuren abzusacken, weil ich mich weigerte, das zu tun. Danach habe ich alles gelesen, was ich zu diesem Thema finden konnte, und Stück für Stück habe ich einiges gelernt.
Frauen in der Revolution
Kassel: Ist denn das, was historisch passiert ist, die Rolle, die Frauen 1917 in der Revolution gespielt haben, aber vielleicht auch nachher noch gelegentlich, ist das für Sie heute noch wichtig? Ist das für Sie in Ihrer eigenen Arbeit als Künstlerin und als politische Aktivistin auch heute noch zumindest so eine Art von Inspiration?
Alechina: Das ist eine etwas schwierige Frage, weil ich glaube, dass die Frauen ihren Platz in der Revolution hatten. Aber ich glaube auch, dass wir nicht noch einmal genau so etwas brauchen, sondern etwas Neues. Ich glaube, ich tue alles, was ich kann, um etwas Neues zu erreichen. Wenn Sie nach Russland gehen, können Sie sehen, dass in allen Städten, selbst in kleinsten, diese riesigen Lenin-Statuen rumstehen, was eigentlich gar nichts mehr bedeutet. Ich glaube, wir brauchen etwas Neues, und wenn wir uns die aktuelle politische Situation auf der Welt ansehen, dann stellen wir fest, dass der Women’s March der größte und stärkste kulturelle Kommentar zu der Situation ist, in der wir uns nun einmal befinden. Das ist unsere Aktualität. Die Stimme des Protests ist die Stimme der Frauen.
Kassel: Liegt das, was Sie gerade gesagt haben, dass wirklich der Protest im Moment weltweit, aber auch in Russland ganz stark von Frauen getragen wird, liegt das nur an den Frauen – das tut es ja ganz sicher –, oder liegt es auch an den Männern? Anders gefragt: Glauben Sie, dass Frauen auch in Russland politisch bewusster gerade leben und vielleicht auch mutiger sind, was Opposition, was Protest angeht?
Alechina: Ich habe in den letzten Jahren viel über Männer nachgedacht. Ich war im Gefängnis und in unserem Gesetz gibt es einen Paragrafen, der besagt, dass Frauen, die für irgendein Verbrechen verurteilt worden sind und ein Kind unter 14 Jahren haben, vor Gericht beantragen können, das Gefängnis zu verlassen, um ihr Kind zu versorgen. Ein Mann darf das aber nicht, auch wenn es das gleiche Kind ist. Männer können solche Anträge nicht stellen. Es gibt viele Dinge, die gegen die Geschlechtergleichheit stehen.
Zum Beispiel dürfen Frauen nicht in die Armee. Aber der Hauptpunkt dreht sich um die Verantwortung. Die patriarchale Gesellschaft gibt ein Konzept vor, nach welchem Männer für alles verantwortlich und stark genug für alles sind. Frauen dagegen werden als schwache Blümchen betrachtet, denen man keine Verantwortung übertragen sollte. Natürlich entspricht das nicht der Realität. Ich glaube, dass jeder frei und selbstverantwortlich denken und handeln kann und heutzutage definitiv gleich behandelt werden sollte.
Ruf nach Entstalinisierung
Kassel: Das bringt uns aber ganz kurz auf einen Moment, wo diese Vergangenheit, die Revolution vor 100 Jahren und die Gegenwart und sogar die Zukunft eng zusammenhängen. Nach der Februarrevolution war Russland für sehr kurze Zeit, eigentlich nur ein paar Monate, das liberalste Land der Welt. Und diese Geschlechtergerechtigkeit, wirklich ein Gleichsein für Männer und Frauen, das gab es für wenige Monate und danach nie wieder. Glauben Sie, dass wir eine solche Gerechtigkeit zwischen Männern und Frauen, zwischen allen Menschen in Russland konkret in nächster Zeit irgendwann erleben werden, zu einer Zeit, wo Sie und ich noch auf dieser Welt sind?
Alechina: Wir müssen einen sofortigen Prozess der Entstalinisierung beginnen. Denn Stalin war einer der Hauptprotagonisten, die die Errungenschaften auf dem Gebiet der Frauenrechte wieder zunichte gemacht haben. Er war in vielerlei Hinsicht schrecklich. Das ist nur ein Punkt. Der rote Terror, den er gegen alle Intellektuellen losgetreten hat, hat auch die Idee der Geschlechtergerechtigkeit zerstört. Um all das wieder rückgängig zu machen, brauchen wir eine Entstalinisierung.
Kassel: Aber wo Sie gerade Stalin erwähnen: Es ist ja tatsächlich so, dass jetzt in Russland Stalin – so scheint es zumindest – wieder beliebter wird und dass viele Menschen Stalin bewundern, aufschauen zu ihm. Glauben Sie denn wirklich, dass man diese Entwicklung gerade jetzt wirklich zurückdrehen kann, etwas verändern kann?
Alechina: Natürlich liebt seine Regierung Stalin, natürlich verbreiten sie Propaganda, die ihn als Helden verehrt. Das ist nicht wirklich überraschend. Aber ich denke, wir können trotzdem etwas tun. Wir können einiges tun, um zu versuchen, sie aufzuhalten.
Kassel: Es ist fast schon privat jetzt, aber ganz einfach gefragt: Sind Sie denn angesichts der Entwicklung gerade jetzt in Russland, sind Sie optimistisch?
Alechina: Wenn man in Russland seinen Humor verliert, dann stirbt man!
Kassel: Das ist das Schlusswort von Mascha Alechina, Mitglied von Pussy Riot, Frauenrechtlerin, Künstlerin. Ich habe das Gespräch mit ihr schon vor der Sendung geführt, übersetzt wurde es von Marei Ahmia. Und Sie finden dieses Gespräch und auch noch ganz viel mehr zu unserem heutigen Themenschwerpunkt Februarrevolution im Internet unter deutschlandradiokultur.de.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.