Putin

Über den schnellen Wandel russischer Ideologie

Russlands Präsident Wladimir Putin bei seiner jährlichen Rede vor dem Parlament in Moskau
Russlands Präsident Wladimir Putin bei seiner jährlichen Rede vor dem Parlament in Moskau © afp / Alexei Nikolsky
Walter Laqueur im Gespräch mit Ernst Rommeney |
Der deutsch-amerikanische Historiker Walter Laqueur hält Putin für pragmatisch und nicht für einen Ideologen. Laqueur nimmt ihm und auch den russischen Bürgern den national-konservativen und missionarischen Eifer nicht ab.
Als er zu schreiben begann, habe er noch nicht gewusst, wie aktuell die Frage, wohin Russland treibe, werden würde. Nicht die Person Vladimir Putins interessierte ihn, denn über ihn gebe es mindestens 50 interessante Biografien.
Vielmehr war Walter Laqueur überrascht, dass sich ein politisches System, eine Ideologie völlig gewandelt habe − so schnell wie nie zuvor in der modernen Geschichte: vom Kommunismus zum Staatskapitalismus, vom Internationalismus zum Nationalismus und dieser getragen von einem bedeutenden Einfluss der orthodoxen Kirche.
Der deutsch-amerikanische Historiker, 1921 in Breslau geboren und heute in Washington lebend, interessierte sich aus familiären Gründen bereits als junger Mann für Russland.
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Cover "Putinismus" von Walter Laqueur© Propyläen Verlag
Nach chaotischen 90er-Jahren, in denen mit Demokratie und freier Marktwirtschaft experimentiert wurde, sei das Land heute wieder eine Diktatur − autoritär, aber nicht faschistisch, mit der Besonderheit, dass sie von 70 bis 80 Prozent der Bürger unterstützt werde, eine Unterstützung, von der westliche Regierungen nur träumen könnten.
Das zeige aber auch, dass Politik eben nicht ganz ohne Ideologie, ohne Doktrin auskomme, es nicht ausreiche, nur den Eliten zu erlauben sich zu bereichern. Die neue Nomenklatura, der neue "Adel" um Präsident und Kreml setze sich aus Geheimdienstlern, Oligarchen und Kirchenführern zusammen.
Dabei sieht Laqueur Putin eher überraschend und zufällig ins hohe Amt gekommen. Auch die politische Ausrichtung Moskaus bindet er nicht an seine Person. Sie hätte auch ein anderer Nachfolger Boris Jelzins vorgenommen und dürfte ebenso von jedem künftigen Staatsoberhaupt fortgesetzt werden.
Putin gibt so gesehen seinen Namen für einen nicht vom ihm erfundenen Politikstil her, der sich entfalten konnte, als und weil er gerade im Amte war.
"Russische Idee" und antiwestliche Haltung
Die neue, postsowjetische "russische Idee" sei publizistisch lange vorbereitet worden, gestützt von konservativen und rechten Strömungen. Sie würde auf die Geschichte des alten Russlands zurückgreifen, auf traditionelle Werte des Zarismus und der Gesellschaft, auf die orthodoxe Religion, auf den historischen Glauben, eine Mission erfüllen zu müssen, gepaart mit der Vision eines Eurasiens, einer antiwestlichen Haltung und der Furcht vor einem inneren wie äußeren Feind.
Mit diesem Konzept sei es dem politischen Moskau gelungen, verlorenen internationalen Einfluss der untergegangenen Sowjetunion zurück zu erlangen. Und diesen Prozess hält Walter Laqueur noch nicht für beendet. Er beschreibt ihn nicht nur als erfolgreich, sondern auch als natürlich. Denn Russland habe eben 20 Jahre benötigt, wofür Deutschland nach dem Zweitem Weltkrieg 15 Jahre benötigte, sich von einer Niederlage zu erholen.
Über Wladimir Putin möchte der Historiker keine Prognose abgeben. Er spekuliert nicht, was ihm einst als Verdienst angerecht werden könnte, oder was noch vom ihm zu erwarten sei. Vor allem ist ihm unklar, ob es die viel diskutierten Reformen in Russland geben werde. Denn er rechnet mit einer Periode des Übergangs, in der die politischen Akteure die wirtschafts- und gesellschaftspolitische Richtung, die zu nehmen sei, noch nicht kennen würden. Diese Unsicherheit zeige sich derzeit auch in anderen Ländern.
Laqueur hält Putin aber für pragmatisch, nimmt ihm und auch den russischen Bürgern den national-konservativen und missionarischen Eifer nicht ab. Die Reaktion des Präsidenten auf Hardliner und die Meinungsumfragen unter der Bevölkerung deutet er so, dass Prinzipientreue auch in Russland am persönlichen Nutzen gemessen wird.

Walter Laqueur: Putinismus - Wohin treibt Russland?
Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt
Propyläen Verlag, Berlin 2015, 336 Seiten, 22 Euro

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