Geopolitische Muskelspielchen
Putin will mit seinem Syrien-Vorstoß klar machen, dass es keine Lösung ohne Russland gibt. Und er hat Recht, meint Politikwissenschaftler Jörg Himmelreich. Da Obama und Putin nichts verbinde als tiefste Verachtung, komme Deutschland bei den Verhandlungen eine besondere Rolle zu.
Der Westen hat versagt. Dafür gibt es kein eindringlicheres Bild als das Foto des dreijährigen ertrunkenen Flüchtlingsjungen Aylan am türkischen Strand. Die Syrienpolitik der Europäer und der USA ist gescheitert. So lautet auch die Botschaft, wenn Russlands Präsident Putin heute vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen spricht.
Die von den USA geleitete Allianz aus 60 Staaten gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" ist zerstritten. Sie weiß nicht recht, wie sie vorgehen soll. Die USA fliegen halbherzige Drohneneinsätze gegen den IS, wohl auch, um das schlechte Gewissen zu beruhigen. Jeder weiß, dass dem IS so nicht beizukommen ist. Und der eigentliche Grund für die Millionen Flüchtlinge aus Syrien ist nicht der IS, sondern der Giftgasdiktator Assad. Der tötet nämlich mit seinen Fassbomben mehr eigene Bürger als der IS. Assad vertreibt die Syrer erst in die Nachbarschaft und jetzt nach Europa – oder eben in die Arme des IS.
Und jetzt kommt ihm der Freund Putin auch noch militärisch zu Hilfe. Denn eine gemeinsame Initiative gegen den IS würde Assad nur stärken. Dabei geht es Putin gar nicht einmal um Assad, sondern um ein geopolitisches Muskelspielchen. Er will wieder ein für alle Mal klar machen und mit ausgebauten Militärbasen festschreiben: Ohne Russland gibt es keine Lösung in Syrien.
Und Recht hat er: Ohne die Einbindung Russlands ist es unmöglich, langfristig den syrischen Krisenherd diplomatisch abzukühlen. Egal, was Putins eigentliche Ziele sind, die Tatsache bleibt: Ohne ihn geht es nicht! Das hat schon das Nuklear-Abkommen mit dem Iran gezeigt. Doch die erneute diplomatische Einbindung Russlands wird schwierig, weil Putin seinen Preis bekommen will. Er weiß, dass er jederzeit seinen militärischen Einsatz, sogar mit Bodentruppen, erhöhen kann. Während der Westen sich schwer tut, solch einen Einsatz innenpolitisch durchzusetzen. Deutsche Soldaten in Syrien? Das möchte keine Bundesregierung gerne erklären.
Angela Merkel als anerkannte Moderatorin
In solch schwierigen diplomatischen Verhandlungen kommt Deutschland und der Kanzlerin eine besondere Rolle zu. Obama und Putin verbindet nichts als tiefste Verachtung füreinander. Sie bedürfen einer von beiden anerkannten Moderatorin. Das ist Frau Merkel. Und Deutschland ist als ein Hauptziel syrischer Flüchtlinge von dem syrischen Bürgerkrieg besonders betroffen.
Deutschland mag in diesen Wochen die eigene Großherzigkeit und Willkommenskultur feiern. Doch beides wird langfristig nicht ausreichen, eine in die Millionen gehende Zahl an Flüchtlingen aufzunehmen. Auch ein Schutzwall um Europa hilft nicht, sondern nur aktive Hilfe vor Ort.
Es ist der Zeitpunkt der Diplomatie: Unverzichtbar ist eine humanitäre Unterstützung für die Flüchtlinge in der Türkei und anderen Nachbarstaaten Syriens. Und es ist der Zeitpunkt des Militärs. Denn auch humanitäre Schutzzonen im zerfallenden Syrien selbst sind unverzichtbar, um den Syrern eine Alternative zur Flucht zu bieten. Solche Zonen müssen gesichert werden. Um dafür Russland zu gewinnen, sind wieder diplomatische Anstrengungen nötig.
All das wird schwierig. Es gibt keine einfachen Lösungen. Aber das darf kein Vorwand dafür sein, den Kopf in den Sand zu stecken. Die deutsche Politik hat eine besondere Verantwortung und besondere Möglichkeiten, einen diplomatischen Verhandlungsprozess mit Russland zum Erfolg zu führen.
Jörg Himmelreich schreibt als Autor für die "Neue Zürcher Zeitung" und forscht zu kulturgeschichtlichen und außenpolitischen Themen Russlands und Asiens. Er war Mitglied des Planungsstabs des Auswärtigen Amts in Berlin sowie Gastdozent und politischer Berater in Washington, Moskau und London.