Selbsterkenntnis durch Zahlen
Wie viele Schritte bin ich heute gegangen, wie viele Kalorien habe ich verbrannt? - Mittels neuer Technik wird die Selbstvermessung immer einfacher. Neu aber ist diese Bewegung nicht.
Ein großzügiges Büro-Loft einer Internetagentur in Brooklyn. Rund 100 Leute sammeln sich in kleinen Grüppchen um Laptops und Smartphones. Ein erwachsener Mann liegt auf einen Tisch und rollt sich scheinbar planlos herum. Auf einem Bildschirm neben ihm blinken bei jeder Bewegung bunte Grafiken auf. Das Ganze ist ein Treffen der New Yorker "Quantified-Self-Bewegung" - zu deutsch "Vermessung des Ichs" - und der liegende Mann simuliert Schlafbewegungen. Andere, wie Bob, schauen zu:
"Ich bin Bob. Ich komme schon seit mehreren Jahren zu diesen Treffen. Wie viele andere hier geht es mir darum, möglichst genau meinen Körper und somit mein Leben zu vermessen. Ich will es verstehen, verbessern und optimieren."
Bob trägt eine Uhr, die mit verschiedenen Sensoren Herzfrequenz, Körpertemperatur, Transpiration, zurückgelegte Schritte und die Länge seines Schlafs misst. Am Rücken trägt er ein Band mit Sensoren, die seine Körperhaltung analysieren. Regelmäßig kontrolliert er - auch im Alltag - seinen Blutdruck und Blutzuckerspiegel und trägt die Daten in eine Excel-Tabelle ein. Die Selbstvermesser lieben Tabellen. Aus den Daten entwickeln sie Grafiken und Kurven, die zeigen sollen, wie sich Merkmale von Körper und Geist über die Zeit verändern.
Steve Dean ist der Gründer des New Yorker Quantified-Self-Treffens. Er leitet eine Design-Agentur in Manhattan und lehrt ein Fach, dass sich "Do It Yourself"-Gesundheit nennt, an der New Yorker Universität.
Es gäbe zwar ein steigendes Interesse an der Vermessung des Ichs, aber neu sei das Thema nicht:
"Das Ganze wird jetzt beliebter, da es nun als eine eigene 'Bewegung' gilt, die 'Vermessung des Ichs' ... Die Industrie hat jetzt also einen Namen für etwas, das es schon lange gibt. Wir beobachten und vermessen uns zum Beispiel bei Weight Watchers seit Mitte des letzten Jahrhunderts und noch viel länger."
Selbstvermessung ist kein neuer Trend
Weight Watchers mit seinem System jedem Nahrungsmittel einen Punktwert zuzuweisen und diese Punkte zu zählen, gilt als eines der ersten größeren Selbstvermessungsprojekte. Auch Leistungssportler dokumentieren und analysieren seit geraumer Zeit Blutwerte, Ernährung und Trainingseinheiten.
Öffentlich bekannt wurde die Bewegung durch Gary Wolf und Kevin Kelly, zwei Redakteure des amerikanischen Tech-Magazins "Wired". Unter dem Titel "The Quantified Self” starteten sie einen Blog und berichteten über Projekte aus verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen zu dem Thema. Heute drängt die Bewegung in den Mainstream:
"Sensoren, die Dinge an unseren Körpern, unserer Umwelt und unseren Autos messen können, sind sehr klein und billig geworden. Dadurch ist es einfach und schnell geworden Geräte zu bauen, die alles mögliche an uns selbst messen. Auch das Internet hat geholfen: Es gibt tausende von Webseiten, auf denen Leute unterschiedlichste Daten von sich aufbereiten und verfolgen können. Selbst ein Bankkonto ist Selbstbeobachtung."
Kontrolle per Handy-App
Was als Bewegung von Technik-Liebhabern angefangen hat, könnte auch Bereiche, wie beispielsweise das Gesundheitssystem, grundlegend verändern: Eric Dishman forscht in der Abteilung für Gesundheitstechnik beim US-Chip-Hersteller Intel. Dort arbeitet er an der Zukunft der Gesundheitsversorgung. Sein Ziel: Krankenhäuser zu entlasten durch Vorsorge und Kontrolle per Handy-App:
"Der Großteil der Vorsorge und auch Behandlung kann dann von zu Hause kontrolliert werden. Nur die schweren Fälle kommen noch ins Krankenhaus. Per Ultraschall beispielsweise können unsere Handys der Zukunft Diagnosen stellen, weitere Technologien und Frühwarnsysteme können eingebaut werden, unsere Gesundheit überwachen wie nie zuvor."
Auch andere IT-Großkonzerne wie Apple und Google stellen verstärkt Ernährungs- und Gesundheitswissenschaftler ein. Die Smartphones der Zukunft sollen mit weiteren Analysewerkzeugen ausgestattet sein. Apple hat beispielsweise Patente für Kopfhörer angemeldet, die den Sauerstoffgehalt im Blut, die Herzfrequenz und die Körpertemperatur messen können. Wer neben dem Nutzer noch alles Zugang zu den Daten haben wird - diese Frage gilt es dann noch zu beantworten.