"Wie sage ich Unsagbares"
Bücher lesbischer und schwuler Autorinnen und Autoren aus der Türkei, Russland oder Georgien stehen im Fokus des Queer East Festivals. Im LCB Berlin treffen sich drei Generationen von Aktivisten, freut sich Angela Steidele, die als Autorin dabei ist.
Frank Meyer: Was bedeutet es heute in Polen oder Bosnien oder Russland, einen schwules, lesbisches, queeres Leben zu führen? Um solche Fragen geht es bei Queer East, einem Festival mit Literatur, Musik und Performance aus Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Gestern Abend hat das im Literarischen Colloquium in Berlin begonnen. Angela Steidele ist eine der deutschen Autorinnen, die bei diesem Festival dabei ist, Thorsten Dönges vom Literarischen Colloquium hat das Programm mit auf die Beine gestellt. Und die beiden sind jetzt hier bei uns im Studio. Seien Sie willkommen!
Angela Steidele: Guten Morgen!
Thorsten Dönges: Guten Morgen!
Meyer: Der türkische Autor Murathan Mungan hat gestern die Eröffnungsrede für das Festival gehalten. Frau Steidele, haben Sie von ihm etwas erfahren, was sich festgehakt hat über queeres Leben in der Türkei?
Steidele: Er hat einen sehr schönen Abriss gegeben über die literarische Behandlung der Männer- und der Frauenliebe in der Türkei – mit historischen Tiefen bis hin zurück zu Sappho, aber auch Dinge, die man so im praktischen Leben gebrauchen könnte, wie zum Beispiel, wie sich Lesben im Hammam durch den Knoten ihres Handtuchs miteinander verständigen. Also er hat einen sehr weiten Bogen gezogen, sehr berührend auch mit dem Auftakt, denn er hat die Rede einem ermordeten jungen Schwulen gewidmet, der von seinem Vater umgebracht wurde und bis heute nicht in der Türkei dafür zur Rechenschaft gezogen wurde.
"Eine Art Geheimsprache im Türkischen"
Meyer: Aber verstehe ich das richtig, um die aktuelle Lage und die Probleme gerade im Moment ging es dann weniger in dieser Rede?
Dönges: Das war der Auftakt der Rede, weil er die eben diesem Mordopfer gewidmet hat, die ganze Rede, und dann ging er eben sehr weit zurück in die Geschichte. Mich hat es sehr interessiert, wie er auch das Thema Sprache behandelt hat, also wie er über diese ganzen Codes, die es schon im Osmanischen Reich gab, gesprochen hat. Und da ist das Besondere am Türkischen bis heute, dass es ja so eine Art Geheimsprache gibt, die sich bis heute erhalten hat. Die zweite Teilnehmerin aus der Türkei hat darüber auch in ihrem Statement geschrieben –, und das ist eben so ein Geheimcode, der sich aus eigentlich allen ehemaligen Sprachen des Osmanischen Reiches zusammensetzt. Und das hat mich sehr interessiert, weil ich davon noch nie was gehört hatte von dieser Sprache.
"Das eine schreiben und das andere meinen"
Meyer: Wird sich dieses Thema weiter durch das Festival ziehen, die Türkei und queeres Leben heute in der Türkei?
Dönges: Nicht nur die Türkei, es sind ja Autorinnen und Autoren aus 18 Ländern da. Ebru Celkan und Murathan Mungan sind aus der Türkei dabei, aber es wird unbedingt auch um Russland gehen, um die Ukraine, Polen, Ungarn, um diesen ganzen geografischen Raum.
Steidele: Etwas, was sich durchs ganze Festival ziehen wird und was gestern Abend schon angesprochen wurde, ist natürlich die Frage, wie sage ich Unsagbares, wie schreibe ich darüber. Und da haben wir gestern Abend eben gehört, wie es sich in der türkischen Sprache zum Beispiel sagen lässt, indem es Personalpronomen gibt, die keinem Geschlecht zugeordnet sind, sodass Dichter also sehr geschickt das eine schreiben und das andere meinen können. Und das sind Erfahrungen, die Autorinnen und Autoren aus vielen europäischen Sprachen mitbringen werden und ganz gewiss auch davon berichten werden.
"Das Patriarchat kehrt mit Wucht zurück"
Meyer: Wenn wir noch mal einen Schritt zurückmachen, vor das Festival, Herr Dönges, was haben Sie denn gesehen in den Literaturen im Osten Europas, von dem ausgehend Sie dachten, es wäre gut, gerade jetzt so ein Festival zu machen?
Dönges: Zum einen ist Berlin einfach sehr nah dran. Es gibt ja viele Autorinnen und Autoren, die auch hier leben, also Dino Pesut aus Kroatien lebt in Berlin, ist ein ziemlich bekannter Theaterautor, aber auch Romancier, und da war klar, dass es schon diese Nähe gibt. Außerdem arbeiten wir ja viel mit Übersetzerinnen und Übersetzern zusammen, und die erzählen uns natürlich, was in diesen Ländern los ist und welche spannenden Autoren es gibt, was dann aber auch genau die Schwierigkeiten sind.
Zum Beispiel in Russland ist es gar nicht so, dass man nicht veröffentlichen könnte, wenn man ein queeres Thema behandelt in einem Buch, aber es ist auf alle Fälle klar, dass kein renommierter Verlag dieses Buch drucken wird, sondern das sind dann eben ganz, ganz kleine Verlage, wo das dann in winzigen Auflagen erscheinen kann.
Steidele: Es ist ja überhaupt ein Phänomen in allen postsozialistischen Ländern, dass das Patriarchat mit überraschender Wucht zurückkehrt und infolgedessen auch homophobe Animositäten zunehmen, und zwar nicht versteckt, sondern ganz offen benannt in Regierungen und Gesetzesvorlagen. Und Literatur, die sich diesen Themen widmet, hat sich also neuen gesellschaftlichen Bedingungen zu stellen, die wir hier im liberalen, freien, emanzipierten Westen lange schon überwunden glaubten. Da kommt etwas zurück, das in unserer eigenen Geschichte mal präsent war und auf einmal wieder Gegenwärtigkeit besitzt.
Ein lesbisches Paar reist bis zum Kaspischen Meer
Meyer: Sie haben das, glaube ich, auch ganz unmittelbar beobachtet, so habe ich das jedenfalls verstanden, Sie haben ein Buch geschrieben über ein lesbisches Paar, das Mitte des 19. Jahrhunderts durch Russland gereist ist, bis zum Kaspischen Meer, über Anne Lister und Anne Walker, "Zeitreisen" heißt das Buch, wird Ende August erscheinen, also ein ganz neues Buch, im Verlag Matthes & Seitz wird das rauskommen, und Sie haben in diesem Zusammenhang gesagt, es war für ein lesbisches Paar offenbar im 19. Jahrhundert leichter, durch diese Region zu reisen, als es das heute ist. Warum sagen Sie das, was haben Sie da erlebt?
Steidele: Die Biografie über Anne Lister, die ich zuerst schon letztes Jahr veröffentlicht habe, hat mich in diese Länder geführt, auf den Spuren dieser beiden Frauen – Anne Lister ist 1840 in Georgien gestorben –, und das Phänomen war, dass ich für die historische Arbeit beobachten konnte, die beiden Frauen wurden überall von der besten Gesellschaft herumgereicht und unterstützt und bekamen Hilfe, und man wollte, dass denen bloß nichts passiert.
Die haben die abenteuerlichsten Reisen gemacht, eine Pferdetrackingtour, sechs Wochen in der entlegenen Bergwelt des Großen Kaukasus. Anne Lister ist nicht gestorben wegen irgendeiner homophoben Attacke, sondern die hat wahrscheinlich Typhus bekommen. Und diese beiden Frauen gaben sich als Paar gesellschaftlichen Schutz, und es wäre viel fragwürdiger gewesen, wenn eine von denen alleine unterwegs gewesen wäre. Zusammen gaben die ein respektables Duo ab, und nach Sex hat einfach niemand gefragt. Ich war mit meiner Frau in Russland, Georgien und Aserbaidschan, und überall wurden wir gewarnt, uns nicht als Lesbenpaar erkennen zu geben. Ich durfte in St. Petersburg, in Moskau und in Tbilisi Vorträge über Anne Lister halten, aber überall konnte nur heimlich für diese Veranstaltungen eingeladen werden. Das heißt, Veranstalter haben da so rosa E-Mail-Listen, dort wird bekanntgegeben, es gibt den und den Vortrag um die und die Zeit, aber nicht der Ort.
Man muss sich also als Interessierter anmelden und kriegt dann am Tag vorher die Adresse. So wird in diesen homophoben Ländern verhindert, dass Schläger vor der Tür stehen, denn man möchte, dass die Gäste und die Autorinnen heil und mit allen Zähnen wieder nach Hause kommen. Das heißt, heute ist es tatsächlich schwieriger, diese Länder als offenes Lesbenpaar zu bereisen als für Anne Lister und Anne Walker 1840.
"Georgien hat eine traurige Geschichte"
Meyer: Sie werden sich heute Abend auch mit einem Autor aus Georgien unterhalten, mit Davit Gabunia. Werden Sie auch über solche Fragen mit ihm sprechen, oder worüber wollen Sie überhaupt mit ihm sprechen?
Steidele: Wir verabreden, dass wir über alles mögliche Georgische sprechen, das heißt natürlich über seinen Text, aber auch über die aktuelle Lage. Georgien hat eine ganz traurige Geschichte zum 17. Mai, das ist der Internationale Tag gegen Homophobie, denn 1990 hat die Weltgesundheitsorganisation an diesem Tag Homosexualität aus der Liste ihrer Krankheiten gestrichen. Das ist also, wenn Sie so wollen, der queere Feiertag auf der Welt. Und Schwule und Lesben in Georgien wollten diesen Tag auch zu ihrem Feiertag machen, werden aber seit 2011 entweder systematisch zusammengeschlagen oder die Demonstrationen werden verboten. Und Georgien ist dieses Jahr Gastland der Frankfurter Buchmesse. Ich meine, dass wir viel über dieses wundervolle Land erfahren sollten, und das ist einer der Aspekte, die auch gehört werden müssen.
Meyer: Jetzt haben wir von Ihnen schon etwas erfahren über Georgien, über Russland. Thorsten Dönges, Sie haben sich ja sicherlich umgesehen bei der Vorbereitung dieses Festivals in vielen Ländern im Osten Europas. Was haben Sie denn da gesehen, in welchen Ländern, über diese Beispiele, von denen wir gehört haben? In welchen Ländern haben es queere Autoren heute besonders schwer?
Dönges: Die Situation ist eben sehr, sehr unterschiedlich in diesen vielen Ländern. Es ging vielen der Gäste aber auch darum zu zeigen, wir wollen jetzt nicht so eine Ghettobildung hier vollziehen, also wir wollen nicht wahrgenommen werden nur als eben diese schwulen, lesbischen, queeren Autorinnen und Autoren, sondern es gibt eben darüber hinaus auch noch viele Themen. Das ist aber ein Thema, das trotzdem vielen sehr, sehr wichtig ist, gerade in Polen. Da ist Jacek Dehnel da, der sich ja auch immer einmischt und gerade sehr, sehr genau guckt, was da sprachlich passiert, also was sich da verschiebt.
Der hat eine sehr, sehr schöne Rede gehalten, wo er einfach wirklich sich Wörter anschaut, die unmöglich waren, die jetzt plötzlich so ausprobiert werden, was ja hier ganz ähnlich passiert. Es wird, glaube ich, wirklich um Sprache gehen, um das genaue Hinschauen, und dann eben auch um die Frage, wie sich persönliche Erfahrungen eben auch literarisch verwerten lassen, wie sich das eine im anderen spiegelt – das ist für viele ein großes Thema.
Drei Generationen von Autorinnen und Autoren
Meyer: Und diese Frage des Einmischens, des Aktivismus, um ein anderes Wort zu nehmen, haben Sie auch schon in Ihrer Einladung zu dem Festival angesprochen – queerer Aktivismus. Was haben Sie da gesehen, in welchen Ländern sind queere Autoren besonders aktiv, auch politisch aktiv?
Dönges: Das ist in vielen Ländern eine Entwicklung, die ganz ähnlich verlaufen ist, nämlich das so eine erste Generation sehr stark nur unter diesem Aktivismusaspekt wahrgenommen wurde, also dass so die ersten Autorinnen und Autoren gar nicht literarisch rezipiert wurden, sondern wirklich nur als irgendwie Markenzeichen einer Bewegung, gesellschaftlich, und das hat sich verändert. Kristina Hocevar aus Slowenien ist da, und die sagt, na ja, ich bin jetzt schon eigentlich mindestens eine Autorinnengeneration weiter, und in meinen ersten drei Gedichtbänden bei den Rezensionen wurde überall geschrieben, ja, da geht's auch immer um zwei Frauen, die miteinander leben, aber sie meint, das hat sich doch sehr, sehr stark jetzt ein bisschen zurückgezogen in der Rezeption, und das Literarische tritt in den Vordergrund. Und das ist tatsächlich in einigen Ländern so, dass in einer neuen, jüngeren Generation das zwar noch bemerkt wird in der Kritik, aber nicht mehr so alles dominiert.
Steidele: Ich verspreche mir von dieser Fragestellung sehr viel auf dem Festival, denn wir haben tatsächlich drei Generationen von Autorinnen und Autoren da. Zur älteren Generation zählt zum Beispiel das Berliner Schlachtross Traude Bührmann, die kommen wird. Die gehörte zur lesbisch-feministischen Szene in Berlin der 1970er-Jahre und hat sich mit der "Courage" und anderen Zeitschriften und Buchprojekten große Verdienste erworben. Und sie zu sehen auf einem Podium und ins Gespräch zu bringen mit Autoren, Autorinnen der 1990er-Generation, da haben wir einfach jetzt mittlerweile Großmütter, Kinder und Enkel beisammen und können ein bisschen – Bestandsaufnahme wäre vielleicht zu viel –, aber wir kriegen Aperçus von verschiedenen Generationen, und das wird schon sehr spannend zu beobachten sein.
Meyer: Da sind wir schon bei den Rollenmodellen. Fast zum Ende des Festivals werden Sie über Rollenmodelle in der queeren Literatur sprechen, so ein Podium zu dem Thema moderieren – wer sind denn für Sie solche Rollenmodelle?
Steidele: Für mich tatsächlich Traude Bührmann. Die Literatur, die sie rezipiert hat, den französischen Feminismus, Luce Irigaray, Hélène Cixous und so weiter, das waren Autorinnen, mit denen ich groß geworden bin im Deutschen, dann Ginka Steinwachs, die diese Autorinnen rezipiert hat. Das ist heute nicht mehr im allgemeinen Bewusstsein, sind aber Orte, wo wir herkommen. Und solche Festivals sind die Möglichkeit, so was einmal wieder zur Sprache zu bringen und die Jüngeren dran zu erinnern, Mensch, früher wurde auch schon mal was gedacht, und so neu seid ihr gar nicht, was ihr jetzt glaubt.
Meyer: Das wird in Erinnerung gebracht bei dem Festival Queer East, Festival mit queerer Literatur, Musik und Performance aus Mittel-, Ost- und Südosteuropa im Literarischen Colloquium in Berlin. Also wenn Sie in Berlin sind, heute und morgen können Sie dabei sein, bei diesem Festival. Die Autorin Angela Steidele und Thorsten Dönges vom Literarischen Colloquium waren bei uns. Vielen Dank an Sie beide!
Steidele: Danke Ihnen!
Dönges: Vielen Dank auch!
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