Queere Theologie

Neue Lesarten der Bibel gegen Homophobie

Eine Regenbogenfahne weht vor einer Kirche.
In der Kirche homosexuell zu sein, ist auch heute noch in vielen Fällen eine große Herausforderung. © picture alliance / dpa / Nicolas Armer
Sowohl in der evangelischen als auch in der katholischen Kirche werden noch heute queere Menschen immer wieder ausgegrenzt – obwohl zahlreiche Bischöfe ihre Solidarität bekunden. Queere Theologie erforscht die Bibel aus queerer Perspektive neu.
Obwohl die christlichen Kirchen Nächstenliebe und Gleichheit vor Gott predigen, gibt es auch im 21. Jahrhundert noch immer Fälle von Ausgrenzung queerer Menschen. Selbsternannte Bibeltreue und andere konservative Hardliner ziehen immer wieder bestimmte Stellen aus der Bibel heran, etwa um gleichgeschlechtlichen Sex als Sünde zu verurteilen.
Queere Theologie bietet einen Gegenentwurf dazu an, nämlich in der Exegese altbekannte und vermeintlich gegen Homosexualität gerichtete Bibelstellen neu zu interpretieren. Durch sie können einige Texte sogar als Quellen queeren Empowerments gelesen werden.

Wie steht die Kirche zu Homosexualität und Queerness?

Die römisch-katholische und die evangelische Kirche haben bis vor wenigen Jahrzehnten schwule und lesbische Menschen ausgegrenzt und verurteilt. Ihnen wurde der Segen verweigert und ihre sexuellen Vorlieben wurden als nicht richtig, als krank oder heilungsbedürftig betrachtet. Heute bekennt sich die evangelische Kirche in Deutschland offiziell zur sexuellen Vielfalt, doch Teile aus dem konservativen und evangelikalen Spektrum der Protestanten haben mit queeren Menschen weiterhin ein Problem. Sie glauben, dass Homosexualität von Gott verboten sei. 
In der römisch-katholischen Kirche gilt gelebte Homosexualität auch offiziell immer noch als Sünde. Papst Franziskus erlaubte zwar Segen für gleichgeschlechtliche Paare, aber nicht im Gottesdienst. Zuletzt wetterte er 2024 gegen Homosexuelle im Priesterseminar. Die Tageszeitung „Corriere della Sera“ zitierte ihn mit den Worten: "In den Seminaren gibt es schon zu viel Schwuchtelei." Franziskus entschuldigte sich später dafür.

Welche Bibelstellen werden zitiert, um Homosexualität zu verurteilen?

Eine Geschichte, die immer wieder gegen Homosexualität vorgebracht wird, ist jene der Zerstörung Sodoms aus dem ersten Buch Mose, Kapitel 19. Die Männer von Sodom fordern von Lot, einem gottgefälligen Mann, die Herausgabe seiner beiden (männlichen) Gäste, um „ihnen beizuwohnen“. Später zerstört Gott die Stadt Sodom für ihre Sünden. In den sozialen Medien verurteilen Christen Homosexualität immer wieder, indem sie dieses Beispiel heranziehen, da die christliche Theologie die Zerstörung Sodoms durch Gott auf die Homosexualität zurückführte.
Ähnlich häufig wird ein Text aus dem dritten Buch Mose gegen Homosexuelle vorgebracht. In Levitikus Kapitel 18, Vers 22 heißt es: „Und bei einem Mann sollst du nicht liegen, wie man bei einer Frau liegt. Es wäre ein Gräuel“.

Wie geht Queere Theologie bei der Bibelexegese vor?

Der evangelische Theologieprofessor Thorsten Dietz sieht die oben genannte Interpretation der Zerstörung von Sodom als Missverständnis. „Die Sünde der Menschen von Sodom war Bruch der Gastfreundschaft, Grausamkeit und Gewalttätigkeit“, sagt Dietz. „Dass man die Sodom-Geschichte liest als Verbot gleichgeschlechtlicher Sexualität, ist etwas, was erst in der späteren Antike beginnt, nicht mal in der Bibel.“ Die Kirche sollte vielmehr Grausamkeit und Machtstreben ausgrenzen. „Das wäre eigentlich die Lehre von Sodom“.
Jens Ehebrecht-Zumsande ist katholischer Pastoralreferent und Gründer der Initiative Out in Church, einem ökumenischen Bündnis von kirchlichen Angestellten, die sich in ihren Kirchen für die Gleichstellung queerer Menschen einsetzen. Der Levitikus-Text aus dem dritten Buch Mose kann seiner Ansicht nach nur in seinem historischen und sozialen Kontext gelesen werden: "Das ist in einem Buch, wo es um Heiligkeit und Reinheitsgesetze geht, für priesterliche Menschen." Das Verbot gilt also in erster Linie für Priester.
Man könne die Aussage zwar durchaus als Ablehnung von Homosexualität verstehen, so Ehebrecht-Zumsande, doch man müsse sie historisch einordnen, „weil man zum Beispiel in einer Zeit, wo das jüdische Volk bedroht war, natürlich darauf bestanden hat, dass es Nachkommenschaft gibt und dass die, die keine Nachkommen produzieren, sozusagen als schwierige Person markiert wurden.“
Gerade jene Christinnen und Christen, die Homosexuelle auszugrenzen versuchen, blenden laut Ehebrecht-Zumsande andere Passagen in der Bibel aus, die nicht in ihr Weltbild passen, etwa Vielehe oder Gewalt gegen Frauen. Die evangelische Theologin Kerstin Söderblom teilt diese Ansicht: „Einzelverse aus dem Kontext heraus wortwörtlich zu zitieren und meinen zu können, damit Handlungsanweisungen für das 21. Jahrhundert geben zu können, das geht nicht.“
Kerstin Söderblom lebt offen lesbisch und ist für viele queere Menschen in der evangelisch-lutherischen Kirche Ansprechpartnerin. Sie veröffentlicht Bücher zum Thema queersensible Seelsorge, deren Grundlage die Queere Theologie ist. 
Immer wieder begegnen ihr Menschen, die wegen ihrer Homosexualität in Kirchengemeinden ausgegrenzt worden seien. Sie kommen aus sehr frommen oder evangelikalen, häufig dörflich strukturierten oder kleinstädtischen Zusammenhängen. „Da gibt es dramatische Erfahrungen von Ausschluss aus der Gemeinde, wenn herauskommt, dass sich junge Frauen in Frauen verlieben oder eine Person sagt: Ich mache mich auf den Weg einer Transition, weil ich anders nicht leben kann.“

An welchen Stellen kann die Bibel queeren Menschen Kraft geben?

Das Christentum hat in seinen Anfängen gesellschaftlich vorherrschende Status-Unterschiede zwischen Mann und Frau, Reich und Arm, Freien und Sklaven hinterfragt und teilweise aufgehoben. Die Botschaft des Christentums lautete, dass vor Gott alle gleich sind. In der Bibel finden sich daher zahlreiche Passagen, die als Ermutigung beziehungsweise Empowerment gelesen werden können – gerade von Menschen, die nicht zur Mehrheit gehören.
Jens Ehebrecht-Zumsande nennt die Geschichte von David und Jonathan aus der hebräischen Bibel, die gegen alle Widerstände eine sehr innige Beziehung hatten. Und in der Apostelgeschichte im Neuen Testament wird über den Missionar Philippus berichtet, der einen Eunuchen taufte –  also eine Figur, die nach der Lesart der queeren Theologie mit binären Vorstellungen von Männlichkeit und Geschlecht bricht. „Das ist die erste Person, die getauft wird und sozusagen damit schon markiert, dass das Christentum eine Religion ist, die gesellschaftliche Status-Unterschiede von vornherein überwindet.“

pj
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