Eine demonstrative Selbstverständlichkeit
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International betrachtet wird Popmusik queerer: Immer mehr Künstler und Künstlerinnen verhandeln ihre sexuelle Identität als Selbstverständlichkeit. Der Außenseiterposition sind queere Musikschaffende aber noch nicht komplett entwachsen.
Nie zuvor hat es so viele offen queere Kreative im Popbusiness gegeben, die auch tonangebend in der Branche waren. Im Juni etwa setzte die venezolanische Künstlerin und Björk-Produzentin Arca mit der Veröffentlichung ihres Albums "KiCk i", einen weiteren Meilenstein ihrer transformativen Musikkarriere und Biografie. Für das Album wurde sie sogar für den Grammy im kommenden Jahr nominiert.
2018 outete sich Arca als nicht-binär und ergänzte später, dass sie sich als trans* Frau identifiziere und mit weiblichen oder neutralen Pronomen angesprochen werden möchte. Dieser Entwicklung ist "Nonbinary", der erste Song ihres Albums, gewidmet.
Grenzen sprengen und Dekonstruktion waren schon immer Arcas Markenzeichen und Queerness ist in diesem Sinne weniger Dauerthema als vielmehr der Kitt, der alles zusammenhält, gewissermaßen die künstlerische Basis. Arca geht es dabei um Souveränität und Selbstliebe, wie zum Beispiel im Track "KLK" mit dem spanischen New-Flamenco-Superstar Rosalía. Arca feiert gemeinsam mit Rosalía, wie weit sie es geschafft haben, indem sie ihren Träumen gefolgt sind.
Diskussion über Geschlechtsidentität
Das tat auch die New Yorker Künstlerin King Princess, die schon mit elf Jahren ihren ersten Plattenvertrag angeboten bekam, aber ablehnte, weil sie sich nicht von einem Label bevormunden lassen wollte.
Im letzten Jahr veröffentlichte die homosexuelle, genderqueere Musikerin ihr Debütalbum "Cheap Queen", auf dessen Cover King Princess mit Drag-Make-up abgebildet ist. Die royalen Referenzen zwischen "König Prinzessin" und "Billiger Königin" nehmen die Diskussion über Geschlechtsidentität direkt auf.
In den 2020er-Singles "Only Time Makes It Human" und "Pain" ist King Princess nicht nur im Discopop gelandet, sondern auch bei einem androgynen Look, der an die Französin Héloise Letissier alias Christine and the Queens erinnert. Beide eint nicht nur die Vorliebe für Royales, sondern auch ihr Songwriting, denn sie verhandeln ihre sexuelle Identität ganz unaufgeregt und mit demonstrativer Selbstverständlichkeit.
"Könntest du mich lieben? Ich bezweifle das, weil du nur das nimmst, was du von mir willst", singt Christine and the Queens auf ihrer 2020er-EP "La vita nuova". Sie schreibt Musik, die niemanden ausschließt, sondern Queerness hörbar und universell anschlussfähig macht. Heteronormative Songtexte im Stile "boys meets girl" oder umgekehrt müssen hier nicht erst umgedeutet werden, damit sie auf die eigene Situation passen. Genau das sind queere Menschen nämlich beim ganz überwiegenden Teil der Popmusik seit Jahrzehnten gewohnt.
Weniger weiße Popmusik
Dank dieser Anschlussfähigkeit hatte auch Arlo Parks im vergangenen Jahr durchschlagenden Erfolg. Der Indie-Folk der Schwarzen, lesbischen Britin exerziert den Schmerz unerwiderter Liebe oder die dunklen Schatten namens "Depression" in ihren bisherigen Singles auf eine universell kompatible Weise durch.
Arlo Parks' Erfolg ist nicht nur ein wichtiger Schritt hin zu einem weniger heteronormativen Mainstream, sondern auch ein Zeichen für weniger weiße Popmusik. "Collapsed in Sunbeams", das Debütalbum der 20-jährigen Britin, auf das ihre Fans schon zwei Jahre lang warten, ist gleich für Anfang 2021 angekündigt.
Konsequent ignoriert
Deutschsprachiger Pop dagegen von nicht-heterosexuellen, nicht-binären oder trans* Künstler*innen ist nirgendwo in Sicht. Und deutschstämmige Popstars wie Kim Petras, die in den Vereinigten Staaten schon mehrere Jahre fester Teil der queeren Kanons sind, werden hierzulande weiterhin konsequent ignoriert.
International betrachtet ist Pop im Jahr 2020 noch mal deutlich queerer und queerer Pop deutlich selbstverständlicher geworden, gerade mit der jüngeren nachwachsenden Generationen der Anfang 20-Jährigen. Seiner Außenseiterposition ist er aber trotzdem noch nicht komplett entwachsen. Die Zeiten, in denen Musikerschaffende aufgrund ihrer sexuellen oder geschlechtlichen Identität um ihren Erfolg fürchten müssen, sind aber endgültig vorbei.