Timo Rieg ist Buchautor und Journalist. Seine zuletzt erschienenen Bücher sind „Demokratie für Deutschland“ und der Tucholsky-Remake „Deutschland, Deutschland über alles“. Seine Fallsammlung zu Qualitätsdefiziten der Corona-Berichterstattung ist hier online veröffentlicht.
Demokratie in der Pandemie
Ohne Denken keine Demokratie - auch quer muss dabei gedacht werden. © Getty Images / iStockphoto / HT Ganzo
Eine Ehrenrettung des Querdenkens
Zu den Opfern der Pandemie gehört auch ein Wort: Querdenken. Das galt mal als Tugend und Ausweis eines kritischen Geistes. Jetzt ist das Wort in Misskredit geraten. Das liegt auch an der Berichterstattung, findet Timo Rieg.
In der Corona-Politik stand der Grüne Hans-Christian Ströbele auf Linie der Bundeskanzlerin: Einschränkungen für alle, statt staatlich verordneten Schutzes vulnerabler Gruppen. Vors Verfassungsgericht wollte er ziehen, hätte die Politik "die Alten und chronisch Kranken separieren" wollen. Im Dezember 2020 twitterte er: "Kontrollierbare Einschränkungen öffentlicher Begegnungen jetzt tun Not."
Dann dies: "Ein Querdenker, der seinem Gewissen folgte", titelte die Tagesschau online zu Ströbeles Tod. Das "grüne Urgestein" - ein Querdenker? Womit seit spätestens Herbst 2020 kein Freigeist mehr gemeint ist, nicht einmal ein mitunter anstrengender, aber doch hilfreicher Querkopf, sondern jemand, der Fakten leugnet und Verschwörungstheorien anhängt.
Von der Auszeichnung zum Stigma
Als Querdenker zu gelten, war mal eine Auszeichnung. Seit der Pandemie ist es ein Stigma, schön zu sehen an populären Verballhornungen wie "Leerdenker" oder "Querpfosten". Folgerichtig wurde die Bezeichnung "Querdenker" im Ströbele-Artikel flugs gestrichen.
Das kollektive Label "Querdenker" für Kritiker der Corona-Politik halte ich für Denkverweigerung. Wer den Begriff für andere Menschen verwendet als für Anhänger der sich tatsächlich so nennenden Querdenken-Initiativen, interessiert sich offenbar nicht für Argumente. Es ist dann egal, wer genau was fordert, es gibt nur eine große Schublade: Querdenker eben. Das bedeutet heute: Spinner, Corona-Leugner, Reichstagsstürmer.
Das ist nicht nur unfair, es hat auch zu einer Diskursverengung geführt, mit hohem Konformitätsdruck und dem Zwang zum Schwarz-Weiß-Denken. Selbst Virologen und Epidemiologen wurden in Gut und Böse eingeteilt: in "Team Vorsicht" und "den Querdenkern zumindest nahe stehend".
Dabei zeigt die nun beginnende Aufarbeitung des Pandemiemanagements, dass wir viel mehr – im guten Sinne – hätten querdenken müssen, weil vieles nicht oder zu wenig diskutiert wurde. Demonstrationen, Petitionen, Blogartikel und Konzeptpapiere haben genügend Hinweise gegeben. Doch es herrschte ein Erkenntnisdesinteresse. In der großen Öffentlichkeit ging es nur um Details, um Breite und Tiefe der Verbots- und Gebotsmaßnahmen, nie ums Grundsätzliche.
Recherche statt Meinung
Es gab kein öffentliches Abwägen verschiedener Modelle, von denen selbstverständlich eines auch hätte sein müssen, gar nichts zu tun. Gerade weil das so verrückt klingt, und damit zum Weiterdenken anspornt.
Unverzeihlich finde ich dieses Versäumnis in der Branche, die im demokratischen Diskurs doch auch fürs Querdenken zuständig ist: im Journalismus. Dort nennt sich die Tätigkeit allerdings recherchieren. Recherchieren heißt, Fragen zu stellen und Antworten zu suchen, ergebnisoffen, vielfältig.
Wer jedoch meint, selbst schon alles zu wissen, oder wer andere Meinungen dogmatisch als Quatsch ablehnt, der recherchiert nicht mehr.
Den medialen Diskurs aufarbeiten
Drei Beispiele: Im Januar 2021 begann der Spiegel eine Frage an Christian Drosten mit der Behauptung: "Einen größeren Schaden als Corona-Leugner haben im vergangenen Jahr wohl Experten angerichtet, die immer wieder gegen wissenschaftlich begründete Maßnahmen argumentiert haben, zum Beispiel Jonas Schmidt-Chanasit und Hendrik Streeck." Ohne Auseinandersetzung mit Argumenten wurden zwei Professoren diskreditiert.
Ein RBB-Vorabbericht zur ersten Großdemonstration in Berlin am 1. August 2020 trug den Titel "Wanderzirkus der Corona-Leugner kommt in die Stadt". Dieser Ton zieht sich durch den gesamten Text.
Im Nachgang meldete dpa, bei der Auflösung der Kundgebung seien 18 Polizisten verletzt worden, drei mussten ins Krankenhaus. Das passte wohl ins Narrativ, war aber mit einer Minirecherche als falsch zu erkennen. Verletzte hatte es bei der Räumung einer linken Kneipe gegeben. Ich habe Hunderte weiterer solcher Beispiele gesammelt.
Zur Aufarbeitung der Corona-Zeit gehört deshalb auch eine Aufarbeitung des medialen Diskurses – und eine Rehabilitierung des Querdenkens, ohne das wir uns die Idee, demokratisch nach den besten Lösungen zu suchen, schenken können.