Quinn Slobodian: "Globalisten. Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus"
Aus d. Engl. von Stephan Gebauer
Suhrkamp, Berlin 2019.
522 Seiten, 32 Euro
Zwischen Freiheit und Autoritarismus
06:30 Minuten
Wer glaubt, das Wort "neoliberal" habe ausgedient, sollte dieses Buch lesen: Quinn Slobodian bietet eine präzise historische Analyse der neoliberalen Weltanschauung und zeigt, warum sie keineswegs mit politischer Freiheit einhergehen muss.
Der "Neoliberalismus" gehört zu den beliebtesten Begriffen, wenn die politische Gegenwart beschrieben wird. Meist wird er als Synonym für einen vollständig entfesselten Kapitalismus gebraucht, in dem die "Gesetze des Marktes" von keinerlei staatlichen Regulierungen mehr eingehegt werden. Dieses Verständnis ist freilich unscharf bis zur Untauglichkeit. Das zeigt der kanadische Historiker Quinn Slobodian in seinem Buch "Globalisten", einer brillanten Ideengeschichte des Neoliberalismus, die von 1918 bis in die Gegenwart reicht.
Denn zwar setzt das neoliberale Programm auf Deregulierung und Privatisierung und auf die Etablierung einer alternativlosen Konkurrenzgesellschaft. Doch geht dies gerade nicht, ohne auf starke Institutionen zurückzugreifen, die über die Grenzen von Staaten hinweg die Freiheit des globalen Wirtschaftens verteidigen – gegen dessen "Bedrohung" durch nationale Gesetze oder durch Bevölkerungen und Politiker, die zu den Aufgaben des Staates etwa auch die Milderung von sozialer Ungleichheit zählen.
Kolonialreiche als neoliberales Vorbild
"Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus" lautet der Untertitel von Slobodians Buch. Als "Geburtsstunde" sieht er die Auflösung der alten Kolonialreiche nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Diese Imperien mit ihren frei fließenden Strömen von Gütern und Kapital bilden das geradezu mythische Urbild jenes "verlorenen" Liberalismus, den Ökonomen wie Friedrich August von Hayek und Ludwig von Mises unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts wieder ins Recht setzen wollen: als Neoliberalismus.
Dessen Verfechter sammeln sich erstmals "auf den Trümmern des untergegangenen Habsburgerreiches" in den 1920er-Jahren in Wien und entwerfen hier das Bild einer Welt ohne Grenzen – jedenfalls für die Ökonomie. Sie sind denn auch die Ersten, die Wirtschaftsprozesse in einer globalen Perspektive analysieren. Ihr "Ordoglobalismus", wie ihn Quinn Slobodian nennt, kennt kein Außerhalb der Weltwirtschaft mehr. Ihr Programm wendet sich gleichermaßen gegen Zollschranken jeglicher Art wie auch gegen die Macht der Gewerkschaften, die im Inneren der Nation das freie Walten der Marktkräfte behindern.
Apartheid und soziale Marktwirtschaft
Vom Wien der Zwischenkriegszeit verfolgt Slobodian die Entwicklung dieser Theorie über die "Genfer Schule" in den 1930er-Jahren und die Gründung der einflussreichen Mont Pèlerin Society 1947 bis etwa zum Wirken des Hayek-Schülers Wilhelm Röpke.
Dieser inspirierte in der jungen Bundesrepublik einerseits Ludwig Erhards Programm der "Sozialen Marktwirtschaft" und wurde andererseits in den 1960er-Jahren zu einem entschiedenen Befürworter der südafrikanischen Apartheid – weil in dieser die neoliberalen Prinzipien autoritär und effektiv durchgesetzt wurden gegen eine in Röpkes Augen unterentwickelte Bevölkerung, die nicht in der Lage war, die "eigenen" Interessen zu erkennen, also: die Interessen des frei flottierenden Kapitals.
Differenzierte und anschauliche Ideengeschichte
Trotz der Komplexität seines Gegenstand schreibt Slobodian – keine geringe Leistung für ein wirtschaftshistorisches Buch – anschaulich und sogar unterhaltsam. Er verflicht intellektuelle Biografien mit Wirtschafts- und Geistesgeschichte und erzählt detailliert die Entwicklung jener Internationalen Handelsorganisationen, in denen die neoliberale Theorie politisch wirkmächtig wurde.
Er zeichnet ein äußerst differenziertes Bild von den inneren Konflikten und Widersprüchen der neoliberalen Weltanschauung und vor allem auch von ihrer sonderbaren Dialektik aus Freiheitsbeschwörung und Autoritarismus. So sprechen ihre Vertreter zwar gerne von Freiheit und Selbstbestimmung; doch werden diese Werte nur so lange geschätzt und verteidigt, wie es um die Selbstbestimmung von Konsumenten und um die Freiheit des Handels und Eigentums geht.
Politische Freiheit ist zweitrangig
Darum haben Neoliberale das südafrikanische Apartheid-Regime ebenso bedenkenlos unterstützt wie die chilenische Diktatur unter Augusto Pinochet. Darum kann das neoliberale Wirtschaftsmodell auch im China der Gegenwart mit seiner hocheffizient formierten Gesellschaft so reibungslos funktionieren: weil für die Idee des Liberalismus, die sich damit verbindet, politische Freiheit bestenfalls sekundär ist gegenüber der ökonomischen.
China ist kein Irrweg: Das lässt sich aus dieser historisch tief gefluchteten Analyse für die Gegenwart lernen. Quinn Slobodian zeigt, dass der Neoliberalismus schon seit seinen Anfängen bloß ein taktisches Verhältnis zu den Systemen der parlamentarischen Demokratie besessen hat. Seine Vertreter waren und sind jederzeit dazu bereit, die politische Selbstbestimmung der Menschen zu opfern, wenn eine autoritäre Regierungsform ihren Interessen besser genügt.