Judentum in der Türkei

Ein Rabbi auf Spurensuche in Anatolien

08:47 Minuten
Ein Mann um die 50, Brille, grau melierter Bart, mit Kippa, in einem schwarzen Kapuzenpulli, fotografiert sich selbst – im Hintergrund eine Berglandschaft im Sonnenaufgang und weitere Reisende.
Das Judentum hat in der Türkei eine längere Geschichte als der Islam. Im Sommer 2021 besuchte Rabbi Mendy Chitrik jüdische Gemeinden und Kulturstätten im ganzen Land. © privat
Von Susanne Güsten |
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Die Türkei gilt heute als muslimisch. Doch schon vor 2700 Jahren lebten dort Juden. Heute sind es nur noch wenige. Ein unternehmungslustiger Rabbi aus Istanbul ist durch die ganze Türkei gereist, um eine Bestandsaufnahme zu machen.
Ein Schofarhorn ertönt in der Synagoge von Antakya, einer türkischen Provinzstadt mit großer Geschichte. Ein reisender Rabbi hat das liturgische Instrument mitgebracht – sehr zur Freude der Gemeinde, die das schon lange nicht mehr gehört hat.
Seit fast zweieinhalbtausend Jahren leben Juden in dieser Stadt, die einst als Antiochien am Orontes bekannt war. Heute hat die Gemeinde nur noch 14 Angehörige. Die freuen sich über den Besuch aus dem tausend Kilometer entfernten Istanbul, zumal Rabbi Mendy Chitrik ihnen auch ein paar Hühner schächtet. Mangels eines befugten Schächters müssen sich die letzten Juden von Antakya beim Sabbat sonst mit Fisch begnügen.

Entdeckungsreise in die jüdische Geschichte

Bei seiner Abfahrt wird der Rabbi von den Gemeindemitgliedern überschwänglich verabschiedet. Mendy Chitrik ist auf Entdeckungsreise durch die Türkei – auf den Spuren des Judentums in Anatolien.
„Ich interessiere mich für Geschichte und besonders für die jüdische Geschichte der Türkei", sagt er. "Ich glaube, dass ein Bewusstsein für die Vergangenheit auch die Gegenwart und die Zukunft prägen kann. Daher lerne ich über die jüdische Geschichte dieses Landes ständig dazu. Und wann immer ich irgendwo eine koschere Fabrik inspiziere, suche ich dort nach den historischen Spuren der Juden.“
Im Auftrag des türkischen Oberrabbinats überwacht Rabbi Mendy Chitrik die Zertifizierung in vielen der rund 400 Fabriken in der Türkei, die koschere Lebensmittel herstellen. Er kommt also viel herum und dokumentiert seine Begegnungen dabei auf Twitter.

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Im Hauptamt ist er Rabbiner der aschkenasischen Gemeinde von Istanbul – einer Minderheit unter den rund 10.000 sephardischen Juden der Bosporus-Metropole.

Vielsprachige Kultur in allen Teilen der Türkei

Zur Vielfalt jüdischen Lebens in der Türkei zählten einst auch Mizrachim, also arabische Juden, und aramäisch-sprachige Juden aus den heutigen Kurdengebieten der Türkei sowie Romanioten, griechisch-sprachige Juden, die seit der Zeit des Römischen Reiches in Anatolien leben.
Heute sind diese Gruppen weitgehend in der Mehrheit der sephardischen Juden aufgegangen, die im 15. Jahrhundert vor der spanischen Inquisition ins Osmanische Reich flohen. Sie leben überwiegend in Istanbul, doch auch anderswo in Anatolien existieren noch jüdische Gemeinden.
Im westtürkischen Bursa etwa fand Rabbi Chitrik eine Gemeinde von 60 Juden mit zwei Synagogen und einem gepflegten Friedhof. Der Gemeindevorsteher sprach mit ihm in einer Mischung aus Türkisch und Ladino, der alten Sprache der Juden im Mittelmeerraum. Täglich setze er sich für die jüdischen Traditionen ein, sagt der Gemeindevorstand Leon Elnekave, damit Gemeinde und Glaube in Bursa erhalten bleiben.

Zeugnisse einer großen jüdischen Gemeinde

Ladino ist auch in Izmir noch lebendig, der westtürkischen Küstenstadt, die früher Smyrna hieß. In der dortigen Synagoge singt Rabbi Chitrik das alte jüdische Lied „Ya Ribon Alam“ auf Hebräisch und Ladino – gemeinsam mit Nesim Bencoya, dem Leiter des jüdischen Kulturerbe-Projektes von Izmir.
Von einem Aussichtspunkt zeigt Bencoya dem Rabbi sein Projekt, das von der Stadt Izmir und der jüdischen Gemeinde getragen und von der EU gefördert wird: „Wir restaurieren hier neun Synagogen und ein Rabbinat. Sie liegen alle in diesem Stadtviertel und stammen aus dem 17. Jahrhundert“, erklärt Bencoya.
Im Innenraum einer Synagoge sind eine Kassettendecke mit hölzernen Ornamenten, mehrere weiße gläserne Kronleuchter und im Vordergrund zahlreiche gepolsterte Sitzbänke zu sehen.
Kulturelles Erbe: die Synagoge von Izmir im Westen der Türkei© Mendy Chitrik
Zweieinhalbtausend Juden leben heute in Izmir. Iim 19. Jahrhundert sollen es noch 50.000 gewesen sein. Schon in der Antike gab es in dieser Gegend eine bedeutende jüdische Bevölkerung, wie Rabbi Chitrik in den Ruinen der antiken Stadt Sardis feststellt, die knapp hundert Kilometer von Izmir entfernt ist.
„Ich stehe hier in einer 1500 Jahre alten Synagoge – eine gewaltige Synagoge, die 2000 Menschen fassen kann", erklärt Chitrik in einem seiner Videos auf Twitter. "Das zeigt uns, wie groß die jüdische Gemeinde gewesen sein muss, die hier vor 1500 Jahren lebte.“

Friedhof vor dem Verschwinden bewahrt

Auch das nahe Tire war einst ein Zentrum jüdischen Lebens und Denkens. Doch davon finden sich heute nur noch wenige Spuren. Ein Krankenhaus war auf dem jüdischen Friedhof gebaut und inzwischen wieder abgerissen worden, wie Rabbi Chitrik bei seinen Recherchen in Tire herausfand:
„Ich bin dann in der Stadt herumgelaufen und habe die Nachbarn gefragt: 'War hier der jüdische Friedhof?' Ich hatte den Friedhof ja schon gefunden, aber ich habe trotzdem danach gefragt, damit die Leute wissen, dass die Juden kommen, um ihren Friedhof zu besuchen. Wenn niemand käme, würde vielleicht wieder etwas darauf gebaut, dann gingen auch die letzten Grabsteine verloren. Indem man eine Stätte besucht, macht man sie den örtlichen Behörden und den Anwohnern bewusst und erweckt sie wieder zum Leben.“
Kreuz und quer durch Anatolien reist der Rabbi. In der Hauptstadt Ankara fand er ein malerisches Judenviertel vor, aber nur noch 30 oder 40 Juden, von denen viele ausländische Diplomaten sind, die nicht dauerhaft dort leben – eine Synagoge mit regelmäßigem Gottesdienst gibt es daher nicht mehr.

Wiederaufbau einer Synagoge

Im südtürkischen Adana konnte er eine funktionierende Synagoge besuchen – in der allerdings kein Gottesdienst stattfindet, da dort keine zehn Juden mehr leben. Im südostanatolischen Diyarbakir, das heute überwiegend von Kurden bewohnt ist, traf Rabbi Chitrik sogar den letzten Juden der Stadt.
Am tiefsten berührt habe ihn aber die Kleinstadt Kilis, die direkt an der Grenze zu Syrien liegt, erzählt der Rabbi:
„Kilis war eine wunderschöne Erfahrung, wir sind dort so freundlich empfangen worden wie sonst nirgends. Die Stadt hat keine jüdische Gemeinde mehr, und trotzdem hat die türkische Regierung die Synagoge von Kilis kürzlich restaurieren lassen – sie haben alte Fotos gefunden und die Ruine damit originalgetreu wieder aufgebaut."
Jetzt sei die Synagoge für Besucher geöffnet, und alle Anwohner seien stolz darauf, sagt Chitrik: "Als wir da waren, kamen die Nachbarn und haben uns eingeladen und bewirtet und stundenlang von früher erzählt, von ihren Erinnerungen an ihre jüdischen Nachbarn und wie sie oder ihre Eltern ihnen am Sabbat immer das Licht anmachten oder den Ofen anfeuerten.“

Älteste lebende Religion in der Türkei

Seit 60 oder 70 Jahren leben keine Juden mehr in Kilis. Vom türkischen Staat damals mit einer diskriminierenden Sondersteuer ausgebeutet und von einer repressiven Minderheitenpolitik ausgegrenzt, wanderte fast die Hälfte der türkischen Juden in den neuen Staat Israel ab.
Ausschreitungen gegen nicht-muslimische Minderheiten in den Fünfzigerjahren und Terroranschläge auf Istanbuler Synagogen 1986 und zuletzt 2003 bewogen noch mehr Juden zur Abwanderung.
Doch das Judentum ist noch immer die älteste lebende Religion in der Türkei, wie Rabbi Mendy Chitrik unterstreicht. Mit seinen Reisen zu entlegenen Gemeinden will er dazu beitragen, dass das so bleibt.

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