Der Rabbi von Dnipro

„Es hat sich angefühlt wie Schindlers Liste"

06:29 Minuten
Rabbi Mayer Stambler. Ein älterer Herr mit Vollbart und Kippa zeigt auf zwei Liegen im Innenraum eines Transporters.
Rabbi Mayer Stambler bei der Koordinierung von Hilfstransporten in Dnipro. © Deutschlandfunk Kultur / Jan Vollmer
Von Jan Vollmer |
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Auch für Rabbi Mayer Stambler hat der russische Überfall auf die Ukraine alles geändert. Trotz ständiger Gefahr ist er in seiner Heimatstadt Dnipro geblieben. Er hilft den Menschen in seiner Gemeinde, für die das Leben immer schlimmer wird.
„Als die Russen kamen, kamen sie sehr schnell. Sie haben es in ein oder zwei Tagen nach Kyiv geschafft. Und es sah so aus, als ob niemand sie stoppen würde. So sah es aus. Und weil es Krieg war, mussten wir die Pässe mitnehmen. Aber wir tragen nichts am Schabbat. Wir dürfen nichts tragen. Also überlegten wir: Gehen wir in die Synagoge, oder gehen wir nicht in die Synagoge. Wenn es lebensgefährlich ist, sollten wir nicht gehen.“
Rabbi Mayer Stambler trägt einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd, grauen Bart und Kippa, als er uns in seinem Büro in der ukrainischen Stadt Dnipro empfängt. Dnipro ist eines der wichtigsten jüdischen Zentren in der Ukraine: Dort steht das Menora-Center, ein 20-stöckiges Hochhaus, dessen sieben Türme an den siebenarmigen Kerzenhalter Menora erinnern. 110 Kilometer Luftlinien südlich von Mayer Stamblers Büro stehen die sechs Reaktoren des Atomkraftwerks von Saporischschja.

„Wie würden sie einen Juden behandeln?“

Rabbi Mayer Stambler erinnert sich an die ersten Tage des russischen Überfalls auf die Ukraine; an seinen ersten Schabbat im Krieg.
„Wir wussten nicht, ob sie kommen oder nicht, also haben wir uns entschieden zu gehen. Ein Wächter ist mit mir gekommen, mit meinen Pässen. Wenn wir zur Synagoge gehen, würden die Checkpoints ukrainisch sein. Aber auf dem Weg zurück, ich wusste nicht, wer da stehen würde. Und wie würden sie einen Juden behandeln, mit einem Bart und einem Hut? Ich wusste es nicht.“
Die ersten Tage der Invasion, so Mayer Stambler, waren Tage mit schweren Entscheidungen. Sollen er und seine Familie in der Ukraine bleiben, auch wenn der Krieg rund um Europas größtes Atomkraftwerk tobt?
„Ich habe einen US-Pass, einen israelischen Pass. Ich kann gehen. Aber wir bleiben. Das ist wichtig. Wir fühlen, dass die Leute das wertschätzen. Es gibt ihnen Hoffnung. Weißt du, wir glauben an dieses Land, an die Armee, an Gott und daran, dass wir auf der richtigen Seite stehen. Alles wird gut werden.“

Die Familie floh, der Rabbi blieb

In seinem Büro erinnert sich der Rabbi aber auch daran, wie die Kämpfe rund um das Atomkraftwerk im Süden heftiger wurden – und die Plätze in den Bussen zur Evakuierung aus der Stadt knapper.
„Es hat sich angefühlt wie Schindlers Liste. Ich hab‘ mich gefragt: Was mache ich hier? Ich schicke meine eigene Familie weg, und andere müssen hierbleiben? Ist das richtig? Ich werde das Gefühl niemals vergessen.“
Rabbi Mayer Stambler hat seine Familie in den Bus gesetzt und ist selbst geblieben. Es war ein Freitag und das erste Mal, dass seine Frau am Abend nicht die Kerzen des Schabbat anzünden konnte.
Er zeigt uns, was er seitdem aufgebaut hat: In einem Zimmer neben seinem Büro sitzt ein junges Team vor Computerbildschirmen und telefoniert – mit Menschen, die aus kaputten Häusern abgeholt werden müssen, sie koordinieren die Lieferungen von Lebensmittelpaketen, Krankentransporte, Evakuierungen.
„Wir haben ein Callcenter aufgebaut. Am Anfang nur Evakuierungen, aber die Leute hatten nichts mehr zu essen. Du musst verstehen, die Gemeinde hilft auch älteren Menschen, Holocaustüberlebenden oder Menschen, die einfach nur arm sind.“

Koordinierung mit Corona-Kontaktlisten

Um der Gemeinde zu helfen, nutzt Mayer Stambler Listen und Kontakte, die er während der Corona-Pandemie angelegt hat.
„Wir haben mit 30.000 Leuten auf einer Liste angefangen. Jetzt sind es 47.000, 50.000. Man fühlt bei so einer Operation, dass man im Krieg ist. Wir fühlen das wirklich. Mr. Selenskyj hat gesagt, dass jeder seine eigene Front hat. Ich weiß nicht, wie man eine Pistole hält. Es ist nicht mein Gebiet. Aber ich fühle, dass ich im Krieg bin. Es ist ein Krieg, um den Leuten zu helfen, zu überleben.“
Rabbi Mayer Stambler will uns mit zu einem Logistikzentrum nehmen, in einem umfunktionierten Warenhaus. Weil Benzin rationiert ist, fahren wir in einem Elektroauto. Paletten mit koscheren Lebensmitteln und Hygieneartikeln stapeln sich hier. An einem Fließband packen Mitarbeiter sie in Pappkartons. 20 Leute, sagt Rabbi Mayer Stambler, arbeiten gerade hier, 24 Stunden am Tag, packen Pakete, verladen sie auf Lastwagen.

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„Es gibt zwei Kisten mit Essen, Wasser, das sind gute Sachen, wir wollen, dass sie fühlen, dass sie uns wichtig sind.“
Zu Beginn des Krieges, erzählt Rabbi Mayer Stambler, haben sie Produkte für 50.000 Pakete bestellt. Drei Pakete, sagt er, kosten um die 100 Dollar. Die Aktion finanziert er mit Spenden aus den USA, aus Europa. Aus dem Lager in Dnipro gehen die Pakete an 160 jüdische Communities in der Ukraine. Am Warenausgang wird gerade ein Lkw mit den gepackten Kisten beladen.

„Die Situation wird schlechter“

Ein paar Monate nach dem Besuch im Warenhaus, Mitte September, meldet sich Rabbi Mayer Stambler nochmal per WhatsApp. Er ist immer noch in Dnipro.
„Samstag Abend ist eine Rakete nah bei meinem Haus eingeschlagen, das war Angsteinflößend. Das war bisher das Schlimmste. Ich schicke dir Bilder. Das Gebäude … Ich war schockiert.“
Und auch, wenn die ukrainische Armee im September militärische Siege im Norden erzielt, ist die humanitäre Situation nicht besser geworden.
„Ich war vergangenen Woche in Butscha, in Irpin und Hostomel. Wir haben Menschen getroffen, die jeden Monat unser Essen bekommen. Die Situation wird nicht besser, tatsächlich wird sie schlechter.“
Die Geländegewinne der ukrainischen Armee bedeuten für Rabbi Mayer Stambler aber auch: Es gibt noch mehr Familien, zu denen er Carepakete schicken muss.
„Ich glaube, die meisten Mitglieder der Gemeinde sind von dort bereits evakuiert. Wir haben ihnen am Anfang geholfen. Aber ich glaube, wir werden noch ein paar Hundert Familien auf die Liste setzten, die jetzt sofort Hilfe brauchen.“
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