Durch Wissen zum Glauben
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Das Abraham-Geiger-Kolleg in Potsdam wurde 1999 als erstes Rabbinerseminar in Deutschland nach der Schoah gegründet. Seine Absolventinnen und Absolventen arbeiten in aller Welt. Zwei aus dem jüngsten Jahrgang erzählen, was sie antreibt.
"Schma Jisrael – Höre Israel", das jüdische Glaubensbekenntnis durfte auch bei der Ordinationsfeier in Berlin nicht fehlen. Isak Aasvestad ist einer der vier Männer und Frauen, die in der Synagoge Rykestraße in ihr Amt als Rabbiner eingeführt wurden. Wie die anderen ergriff auch er kurz das Wort:
"Meine Rolle als moderner Rabbiner im Reformjudentum ist nicht so sehr die eines Richters, der den Menschen vorschreibt, was sie zu tun haben, sondern eher die eines Lehrers und Begleiters, der die Menschen unterweist und sie befähigt, sich die Werkzeuge der jüdischen Tradition zunutze zu machen."
Entscheidung für den jüdischen Glauben
Eine Tradition, die dem Norweger nicht in die Wiege gelegt wurde. Der 42-Jährige ist in einer säkularen Familie in Oslo aufgewachsen, aber Religionen interessierten ihn schon lange und so studierte er zunächst evangelische Theologie in Oslo, bevor er 2007 zum Judentum übertrat. Es gab theologische und philosophische Gründe für diesen Schritt, sagt Aasvestad, aber manches lasse sich schwer erklären:
"Es ist so ein bisschen, wenn man sich in jemanden verliebt: Man kann auf gute Eigenschaften in dieser Person hinweisen, aber die Liebe ist etwas mehr. Es ist etwas, was man nicht ganz erklären kann, ein Funke, eine Seelenbegegnung."
Dass er sich für das liberale Abraham-Geiger-Kolleg entschieden hat, ist kein Zufall. Der Leitspruch Abraham Geigers, nach dem das Rabbinerseminar benannt ist, ist auch für Aasvestad zentral: "Durch Wissen zum Glauben". Zu einem zeitgemäßen Judentum gehöre das kritische Hinterfragen von Traditionen, wie es in der Wissenschaft üblich ist:
"Für mich heißt authentisch jüdisch zu leben nicht, alle Formen von der Vergangenheit einfach so zu übernehmen. Judentum war immer eine Religion, die sich an die Gegenwart angepasst hat. Es gab immer eine gegenseitige Beeinflussung zwischen Judentum und der Gesellschaft, in der die Juden lebten."
Ängste nach dem antisemitischen Anschlag von Halle
Eine Beeinflussung, die nicht immer fruchtbar ist, wie die Geschichte des Antisemitismus zeigt. Aasvestad selbst hat bislang wenig persönliche Anfeindungen erfahren, räumt er ein, was vielleicht aber auch daran liege, dass er nicht aus einer jüdischen Familie stammt:
"Aber ich merke zum Beispiel, dass es nach dem Anschlag in Halle einige Gemeindemitglieder gab, die tatsächlich Angst hatten, in die Synagoge zu kommen."
Für Anita Kantor weckt der wieder aufflammende Antisemitismus in Deutschland tief liegende Erinnerungen. Die 49-Jährige ist in der vergangenen Woche ebenfalls zur Rabbinerin geweiht worden. Sie stammt aus einer alten jüdischen Familie in Ungarn. In ihrem Elternhaus spielte die Religion keine große Rolle. Für Anita Kantor dagegen schon. Als Lehrerin für Judaistik unterrichtete sie Hebräisch und Talmud in Budapest, bevor sie sich 2014 für das Abraham-Geiger-Kolleg und damit für Deutschland entschied:
"Am Anfang hatte ich auch Schwierigkeiten damit: Zwei Drittel meiner Familie wurde im Holocaust vernichtet, und dann, plötzlich, habe ich mich entschieden, hier zu studieren. Das war nicht einfach für meine Familie und meine Freunde zu verstehen."
Aber Kantor lässt sich in ihren Entscheidungen und Überzeugungen nicht beirren. Weder von ihrer Familie noch von Menschen, bei denen sie auf antisemitische Einstellungen trifft, zum Beispiel auf dem Sziget Festival in Budapest, auf dem sich die selbstbewusste Jüdin seit vielen Jahren engagiert.
Keine Scheu vor kontroversen Diskussionen
Das Festival ist eine Art ungarisches Woodstock: Wenn nicht gerade eine Coronapandemie herrscht, spielen jeden Sommer auf einer Donauinsel acht Tage lang Bands aus aller Welt Musik rund um die Uhr, daneben gibt es Theater, Tanz und immer wieder politische Diskussionen.
"Ich genieße diese Begegnungen mit Antisemiten", sagt Kantor. "Letztes Mal war da zum Beispiel eine Gruppe aus Frankfurt/Oder, und sie kamen zu mir und haben darüber gesprochen, wie sie die Juden hassen und diese ganze Geschichte mit den Palästinensern in Israel und so weiter. Wir hatten so eine 40-minütige Konversation mit denen, und als sie weggingen, sagten sie zu mir: 'Okay, jetzt wissen wir mehr, trotzdem mögen wir die Juden nicht. Aber du bist cool, Anita'."
Unterstützung, um den eigenen Weg zu finden
Diskutieren, streiten und sich nicht verstecken: Auch das gehört für Anita Kantor zu einem Judentum, das sich als Minderheit in der jeweiligen nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft engagiert. Und dennoch sehe sie sich nicht als Politikerin oder politische Aktivistin:
"Als Rabbinerin ist es nicht unsere Aufgabe, uns damit zu beschäftigen. Mein Ziel mit meiner Gemeinde ist, ihnen mehr Wissen zu geben, um eigene Wege zu finden."
Das heißt, seinen oder ihren eigenen Weg muss jeder und jede selbst finden. Anita Kantor und Isak Aasvestad wollen dafür eine Orientierung anbieten: sie in Budapest und Berlin und er als Rabbiner im Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Schleswig-Holstein, wo er bereits während seiner Ausbildung tätig war. Den Kern der jüdischen Tradition fasst Aasvestad in folgenden Worten zusammen:
"Was du nicht möchtest, dass andere Dir antun, tue auch nicht anderen an. Das ist die Thora, der Rest sind Kommentare. Also, ob man ein guter Mensch ist oder nicht, das hängt davon ab, wie man gegenüber seinen Mitmenschen ist."