Geschichte der Ekstase
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Entrückt in Himmel und Hölle
32:06 Minuten
![Das Bild zeigt das Cover des Buches „Berauscht der Sinne beraubt – Eine Geschichte der Ekstase“. Über das gesamte Cover zieht sich ein psychedelisches Muster, wie es ein Kaleidoskop erzeugt – in den Farben Lila, Gelb und Hellblau. Das Bild zeigt das Cover des Buches „Berauscht der Sinne beraubt – Eine Geschichte der Ekstase“. Über das gesamte Cover zieht sich ein psychedelisches Muster, wie es ein Kaleidoskop erzeugt – in den Farben Lila, Gelb und Hellblau.](https://bilder.deutschlandfunk.de/83/c5/94/91/83c59491-1d92-4c9f-9cf1-907219f09bdb/berauscht-der-sinne-beraubt-cover-100-768xauto.jpg)
Racha Kirakosian
Berauscht der Sinne beraubt. Eine Geschichte der EkstasePropyläen Verlag, Berlin Berlin416 Seiten
28,00 Euro
Racha Kirakosian beleuchtet die Geschichte der Ekstase in einem interdisziplinären Rundumblick. Darin schreibt die Autorin nicht nur beeindruckend fachkundig, sondern auch angenehm locker.
In ihrem Buch „Berauscht der Sinne beraubt“ widmet sich Racha Kirakosian der Geschichte eines schillernden Phänomens. Entrückungszustände, so unterstreicht die Historikerin, zeichnen sich nicht nur durch ein breites Spektrum an Verhaltensweisen und Erfahrungen aus. Sie werden je nach kulturellem und historischem Kontext auch ganz unterschiedlich interpretiert. In der großen Vielzahl der überlieferten Deutungen erscheint die Ekstase mal ersehnt und erkenntnisfördernd, mal vorwissenschaftlich und primitiv.
Interdisziplinärer Rundumblick
Weil der interdisziplinäre Rundumblick sie interessiert, gliedert Racha Kirakosian das Buch in fünf thematische Kapitel, die je quer durch Historie und Perspektiven wandern. Unter der Überschrift „Visionen und Flow“ geht es um Träume, Prophezeiungen und Orakel. „Freude im Schmerz“ präsentiert die überlieferte Lebensgeschichte der Christina von Hane. Um sich mit Gott zu vereinen, malträtierte die mittelalterliche Nonne ihren Körper auf extreme Weise, rammte sich Holzblöcke in den Unterleib und schmierte ihr Geschlecht mit Kalk und Essig ein, was entsetzliche Schmerzen, aber auch Gottesschau und Bewusstlosigkeit nach sich zog – sowie die erste schriftlich überlieferte Beschreibung der Klitoris, wie die Mittelalter-Expertin nicht vergisst zu erwähnen.
Schon damals warnten Stimmen vor Übertreibungen. Dass das auch misogyn motiviert sein konnte, zeigt ein Kapitel über Frauen, Ekstase und Hexenverfolgungen.
Nach Ausführungen über die entgrenzende Wirkung des Tanzes wird es im letzten Kapitel noch einmal düster, wenn die Autorin Massenbewegungen in Politik und Religion in den Blick nimmt und sich ausführlich mit dem Drogenkonsum in Kriegszeiten beschäftigt.
Stilistisch locker
Der multiperspektivische und interdisziplinäre Ansatz schlägt sich stilistisch wunderbar nieder, indem Racha Kirakosian nicht nur beeindruckend fachkundig, sondern auch angenehm locker schreibt. Sie scheut sich nicht vor jugendlichen Anglizismen, fühlt sich ein in die Sehnsucht nach Partydrogen, bleibt nüchtern-kritisch gegenüber Kommerz und Gesundheitsgefahren, hat seligmachende Fußballstadien und Raves ebenso im Blick wie mystisch-religiöse Versenkungsrituale in verschiedenen Kulturen und Zeiten sowie faschistisch inszenierte Massenaufmärsche. In gestalterisch abgesetzten Abschnitten, „Diskursiv“ genannt, tritt sie aus dem Erzählfluss heraus und sucht Meta-Ebenen, in „Exkursiv“-Passagen streut sie Seitengedanken und Persönliches ein.
Grenzen der Wissenschaft
In ihrem vielschichtigen Buch gelingt es Racha Kirakosian, die ganze Ambivalenz der Ekstase spürbar zu machen: Entrückung kann Erkenntnis und Inspiration bringen, aber auch Manipulation, Fanatismus und Gewalt.
Eines macht die Autorin außerdem deutlich: Neurobiologische oder gar pathologisierende Erklärungen für Menschen in Verzücktheitszuständen sind lediglich ein weiteres Narrativ und vermögen, besonders wenn sie historische Kontexte nicht mitdenken, keineswegs „die“ Wahrheit über die Ekstase zu erfassen – denn die gibt es nicht.