Rachefeldzug der Unterdrückten

20.11.2008
Mitte des 19. Jahrhunderts: Die junge Hannah kommt nach einer unbarmherzigen Kindheit und Jugend im Waisenhaus als potentielle Ehefrau eines Siedlers nach Deutsch Südwestafrika (das heutige Namibia). Als sie dort von Siedlern und Offizieren vergewaltigt wird, startet sie einen Rachefeldzug gegen ihre Peiniger, dem sich die misshandelten Eingeborenen anschließen.
Bremen, Mitte der 19. Jahrhunderts. In einem Waisenhaus wächst das Mädchen Hanna unter erschreckenden Verhältnissen auf. Von einer kaltherzig-autoritären Heimleiterin immer wieder bis aufs Blut geschunden, von einem heuchlerischen Pastor sexuell missbraucht, in mehreren Dienstverhältnissen schamlos ausgebeutet, schafft sie es schließlich volljährig, Bremen zu entfliehen und in die deutsche Kolonie Deutsch Südwestafrika auszuwandern. Das deutsche Reich sucht für die dortigen Siedler Ehefrauen. Hunderte werden vor dem I. Weltkrieg in das heutige Namibia geschickt. Ein wenig bekanntes Phänomen der deutschen Kolonialgeschichte, das die Grundlage für André Brinks Roman "Die andere Seite der Stille" bildet.

In Swakopmund angekommen, warten bereits dutzende Männer auf die Neuankömmlinge, um sich während der folgenden Zugfahrt nach Windhuk eine zukünftige Gattin auszuwählen. Einige allerdings werden von allen abgelehnt. Sie landen in der Wüstenfestung Frauenstein, einer merkwürdigen Mischung aus Nonnenkloster, Bordell und Irrenhaus.

Unter ihnen ist auch Hanna, die Schreckliches erlitten hat. Nachdem sie bereits auf der Schiffsreise vergewaltigt wurde, zwingt sie im Zug ein Hauptmann erneut zum Geschlechtsverkehr. Als sie sich heftig wehrt, wird sie so brutal verstümmelt, dass ihr Anblick fortan jeden schockiert, der sie anschaut. So kommt Hanna nach Frauenstein.

Als sie dort miterlebt, wie wieder einmal ein Offizier eine junge Waise, Katja, vergewaltigen will, bringt sie den Mann um und verscharrt die Leiche. Anschließend brechen die beiden Frauen auf, den Offizier zu finden, der Hannahs Körper zerstört hat.

Ihr Weg durch die wüstenähnlichen Landschaften Namibias, dem sich auch einige von den deutschen Schutztruppen misshandelte Eingeborene anschließen, wird zu einem blutigen Feldzug gegen die Besatzer. Kaltblütig eliminiert sie eine Garnison nach der anderen.

Die Einzigen, die in dem Roman außer Hanna und Katja als menschliche Wesen voller Mitgefühl und Wärme geschildert werden, sind die Schwarzen. Mit viel Einfühlungsvermögen zeichnet André Brink die Ureinwohner Namibias. Ohne ihre Kenntnisse würde Hannah in der Wüste verdursten und verhungern. Von ihnen lernt sie zu überleben. Es sind dies die erlösenden, befreienden und schönsten Momente des Buches, wenn André Brink von den Mythen der Völker Namibias erzählt, ein schwarzer Zauberer Wunder wirkt.

Diese Passagen lassen zwischendurch aufatmen, denn André Brinks Geschichte ist nur schwer zu ertragen, so groß sind die Grausamkeiten, die nicht nur Hanna X zu erleiden hat, sondern auch die schwarzen Ureinwohner. Die historisch belegten Gräueltaten der deutschen Soldaten und deutschen Farmer in Deutsch Südwestafrika an den indigenen Völkern wirken wie eine Vorwegnahme der Nazi-Verbrechen. Es ist dieselbe Mentalität.

Doch André Brink geht es um mehr. Er zeigt, dass Hannah letztlich nicht bereit ist, Hass mit Hass, Gewalt mit Gewalt zu vergelten. Sie durchbricht schließlich die Rachespirale. André Brinks wortgewaltiger, großartig von Michael Kleemann übersetzter Roman "Die andere Seite der Stille" ist von geradezu alttestamentarischer Wucht.

Doch bei aller Gewalttätigkeit, die er ausmalt, siegt am Ende die Menschlichkeit. Er beschwört zudem eine andere Zukunft als die der Waffen und des Völkermords. Ein bewegender, ein wütender, ein atemberaubender Roman, eine phantastische Geschichte, die der Wirklichkeit entsprungen ist, aber weit über sie hinausragt.

Rezensiert von Johannes Kaiser

André Brink: Die andere Seite der Stille
Aus dem Englischen Michael Kleeberg
Osburg Verlag, Berlin 2008
411 Seiten, 19,90 EUR


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