"Jeder wusste es: Die Juden sind wir"
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Eine Fachbuchhandlung für jüdische Literatur in München zu eröffnen, war 1982 nicht gerade naheliegend. Rachel Salamander hat es trotzdem getan und damit auch einen Ort des Austauschs und der Begegnung geschaffen.
Ein "Forum des Austausches und der Begegnung" – das ist Rachel Salamanders Literaturhandlung in München seit ihrer Gründung im Jahr 1982. "Ich habe es von vornherein für wichtig gehalten, dass die Literaturhandlung ein Ort wird, wo Menschen sich verständigen über ihre Geschichte, über jüdische Identität, über deutsche Geschichte", erzählt Salamander.
Knapp vier Jahrzehnte nach Kriegsende und Holocaust war das nicht gerade eine Selbstverständlichkeit: "1982 war die Zeit, in der sich das Verhältnis von Juden und Nichtjuden noch unter einer sehr tauben Glocke befand. Große bleierne Befangenheit auf der nichtjüdischen Seite; es hat sich ja kaum ein Mensch zu dieser Zeit getraut, das Wort Jude auszusprechen."
Umso wichtiger ist es Rachel Salamander, ein literarisches Angebot und ein Forum für Gespräch und Austausch zu schaffen. "Wissen baut Vorurteile ab. Wissen nimmt Fremdheitsgefühle. Und das war die Zeit, in der wir anfangen mussten, daran zu arbeiten", ist ihre Überzeugung.
Kindheit in einem Camp für "Displaced Persons"
Salamander wurde 1949 geboren, in einem Camp für "Displaced Persons", Überlebende des Holocaust, im bayerischen Deggendorf. "Es waren alles Menschen, die ein Stück Vernichtung in sich trugen, Menschen, die gezeichnet waren von dem Geschehenen. Sie kamen gerade von einem Menschheitsverbrechen ins Leben zurück", sagt die heute 72-Jährige.
Zugleich erinnert sie sich aber auch an die Fürsorge, die den Kindern zuteil wurde: "Die Kinder waren für die Überlebenden und traumatisierten Menschen die Spur in die Zukunft. Und wenn im Lager irgendetwas zu vergeben war, dann haben es immer zuerst die Kinder gekriegt."
Anfang der 1950er-Jahre, nach der Gründung des Staates Israel, wandern viele Holocaust-Überlebende aus, die Camps leeren sich. Rachel Salamanders Familie bleibt. Nach dem frühen Tod der Mutter zieht der Vater mit den beiden Kindern in einen Sozialbau nach München, in dem ausschließlich Bewohner aus den DP-Camps leben:
"Es ging sehr schnell, dass unsere Umwelt wusste, dass wir ein Judenhaus sind. Jeder wusste das: Die Juden sind wir. Aber im Gegensatz dazu wussten wir nie, mit wem wir es zu tun hatten. Und auf dieser Seite sind wir ja immer auf ein Schweigen gestoßen. Ich habe in zwei Welten gelebt; und diese Asymmetrie zwischen der Opfergesellschaft und denen, die ins Dritte Reich verstrickt gewesen sind, hat mein weiteres Leben bestimmt."
Die Kinder, bisher aufgewachsen mit dem Jiddischen als Muttersprache, sind nicht nur kulturell, sondern auch sprachlich entwurzelt. "Als ich in die Schule kam, sprach ich kein Deutsch, und das erste Jahr, bis ich dann Deutsch gelernt habe, war für mich sehr schwierig." Die erste Zeit hätten sie und ihr Bruder oft geweint.
Trost in der Literatur
Zur Literatur findet Rachel Salamander über ihren Vater: "Mein Vater sagte immer: 'Das, was du im Kopf hast, das kann dir niemand nehmen. Lerne, lese – das ist das Wichtigste'."
Ihr "Erweckungsbuch" ist Fontanes Effie Briest, sie liest es mit zwölf Jahren. "Ich weiß noch, wie ich im Bett lag, auch da schon ganze Nachmittage mit hochroten Wangen. Und plötzlich habe ich begriffen, dass es andere Welten gibt, dass es andere Gefühle gibt. Und dass es andere Lebensentwürfe gibt als nur das, was ich in meinem Leben erfahren habe. Und diese Abenteuer haben mir natürlich auch geholfen, meine Welt von mir etwas zu distanzieren und besser zu begreifen."
Die Literatur mag ihr auch über die 40 Jahre hinweg geholfen haben, in denen sie als Staatenlose in Deutschland leben musste, so wie ihre Eltern, die – aus Polen kommend – diesen Status erhalten hatten:
"Meine Eltern sind als heimatlose Ausländer gestorben, obwohl mein Vater ja Jahrzehnte noch hier gelebt hat. Und ich wurde 1992 eben Deutsche. Ich bin hier aufgewachsen, habe hier meine Sozialisation durchlaufen, habe Deutsch-Abitur gemacht und sehr spät den Pass bekommen, weil es kein unbürokratisches Angebot der Bundesrepublik an solche entwurzelten Leute wie uns gab."
Heute blickt Rachel Salamander mit Stolz auf das, was ihr – trotz aller Widrigkeiten – gelungen ist: "Ich sage es ganz unbescheiden, dass ich 40 Jahre lang viele Leute (miteinander) ins Gespräch bringen konnte, und wir uns darüber unterhalten konnten und Kriterien herausgearbeitet haben – Juden und Nichtjuden gemeinsam – wie wir zusammenleben wollen."
(sus)