Umsteigen auf Elektro
20:21 Minuten
In den 1980er-Jahren steuerten die Niederlande um, investierten kräftig in das Radwegenetz und änderten Gesetze. Bei Unfällen waren grundsätzlich Autofahrer Schuld. Jetzt steigen viele im Land auf E-Bikes um. Aber nicht alle Hoffnungen erfüllen sich.
Wer Geert Kloppenburg in Zandvoort besucht und mit ihm über Mobilität sprechen will – über Autos, Räder, Züge – der muss ihn nicht lange bitten. Der Niederländer ist sofort leidenschaftlich bei der Sache.
Kloppenburg berät Firmen, hält Vorträge und betreibt einen Podcast zum Thema. Darin spricht er mit Experten weltweit über Verkehrslösungen, die das Leben in Städten besser machen.
Helsinki, Berlin, Los Angeles: Kloppenburg interviewt Stadtplaner, Politiker und Wissenschaftler und sucht nach Ideen. Der Niederländer hat also einen guten Überblick, wie Städte weltweit ihren Verkehr organisieren. Woran aber denken seine Gesprächspartner, wenn sie an die Niederlande denken?
"Das erste woran sie denken, ist das Fahrrad. Steig auf dein Rad, steig auf dein Rad!"
Energische Proteste formten die Radfahrer-Nation
Ein Klischee, das nur halb stimmt, sagt Kloppenburg. Denn es ist nicht so, dass die Niederländer nicht Auto fahren würden.
"Wenn man sich die Anzahl der Autobahnen zwischen Den Haag und Rotterdam anschaut, wird klar, dass wir Niederländer längst nicht alles mit dem Rad machen. Es gibt auch hier riesige Staus. Wir haben rund 7,5 Millionen Autos allein in der Randstad-Region und 14 Millionen Parkplätze. Es ist also ein Märchen, dass wir alles per Rad erledigen."
Und doch sind die Niederlande eine Nation der Radfahrer. Vor allem die kurzen Wege – zur Schule, zum Sport, zum Einkaufen – werden mit dem Rad zurückgelegt. Die roten Radwege sind allgegenwärtig. Aber das war nicht immer so.
"Manche Leute glauben, das ist seit hunderten von Jahren so. Aber das ist der größte Quatsch. Es brauchte fast Straßenkämpfe in Amsterdam in den 70ern und 80ern, um das System zu ändern."
Seit den 80ern setzen die Niederlande aufs Fahrrad
Es gibt eine Frau, die genau weiß, wie die Niederlande zum Radfahrerparadies wurden. Sie ist US-Amerikanerin und wohnt in Amsterdam: Meredith Glaser leitet das Urban Cycling Institute an der Universität von Amsterdam.
"In den 50ern und 60ern machten die Stadtplaner damals Platz für das Auto. Das war die Technologie der Zukunft. Die Vision war eine autobasierte Mobilität."
Aber bald türmten sich die Negativschlagzeilen: schlechte Luft, verstopfte Straßen, Unfälle.
"Die Zahl der Verkehrstoten stieg, darunter viele Kinder. Das war ein großer Faktor. Die waren es gewohnt auf den Straßen zu spielen. Aber mit den Autos wurde das immer gefährlicher. Dazu kamen Umweltbewegungen und andere Proteste – und ein Öl-Embargo, das die Benzin-Preise nach oben trieb. All das passierte in den 70ern."
Die Bürger fanden Gehör. Es sollte aber noch einige Jahre dauern, bis niederländische Politiker und Stadtplaner wirklich reagierten. Erst in den 80er- und 90er-Jahren wurde in eine neue Infrastruktur, ein Radwegenetz investiert.
Autofahrer sind prinzipiell Schuld an Unfällen
Auch neue rechtliche Grundlagen wurden geschaffen, erklärt Fahrradforscherin Glaser:
"Man richtete sich nach drei grundlegenden Prinzipien. Erstens: Menschen machen Fehler. Zweitens: Die Regierung ist für die Sicherheit der Menschen zuständig. Und drittens: Die Gestaltung der Straßen sollte die Fehler der Menschen einkalkulieren und den daraus entstehenden Schaden minimieren."
Diesen Leitgedanken folgend, reorganisierten die Niederländer die Straßen in ihren Städten. Fußgänger und Radfahrer erhielten mehr Platz. Auf Straßen mit viel Verkehr wurden die verletzlichen Verkehrsteilnehmer räumlich von den Autos getrennt. Ein Meilenstein der niederländischen Radfahrgeschichte.
Bei Unfällen mit Radfahrern waren ab sofort außerdem prinzipiell die Autofahrer Schuld.
"Als diese Neugestaltung des öffentlichen Raums abgeschlossen war, fuhren bald wieder mehr Menschen Rad als Auto, und auch die Zahl der Toten und Verletzten sank drastisch."
Finanziert durch Parkgebühren
Bei 17 Millionen Einwohnern gibt es heute rund 23 Millionen Fahrräder in den Niederlanden und über 3100 Radläden. In Amsterdam allein gibt es fast 770 Kilometer Radwege.
Finanziert wurde das neue Radwegenetz damals übrigens unter anderem durch Parkgebühren. Bis heute ist es teuer, in Amsterdam sein Auto abzustellen. Eine Stunde kostet bis zu 7,50 Euro.
Einnahmen, die weiter gebraucht werden, denn, "eine fahrradfreundliche Stadt ist nie fertig. Die Niederlande wollen den Anteil der Radfahrer weiter erhöhen. Und die traditionellen Radwege sind in vielen Städten nun nicht mehr breit genug, um den derzeitigen Radverkehr zu stemmen."
E-Bikes ersetzen herkömmliche Räder
Das liegt auch daran, dass sich die herkömmlichen Radler die Wege mit einem neuen, schnelleren Konkurrenten teilen müssen: dem E-Bike.
"Wir haben gesehen, wie der Anteil der E-Bikes in den vergangenen Jahren explodiert ist", sagt Mathijs de Haas. Der Verkehrswissenschaftler von der Universität Delft hat jüngst eine Studie zur E-Bike-Nutzung durchgeführt. Er untersuchte unter anderem, ob E-Bikes, wie von der Politik gewünscht, das Auto ersetzen.
"Unsere Forschung zeigt, dass nur Berufspendler das E-Bike als Autoersatz nutzen. Die Mehrzahl der E-Bike-Nutzer ersetzt damit das herkömmliche Rad. Das ist ein wichtiger Hinweis für politische Entscheidungsträger. E-Bikes zu bewerben führt nicht automatisch zu einer geringeren Autonutzung."
Das E-Bike verdrängt derzeit also vor allem das umweltfreundlichere muskelbetriebene Fahrrad.
Aber de Haas ist zuversichtlich. Denn die Gruppe der Berufspendler, die das Auto für das E-Bike stehen lässt, wächst.
Niederlande mit Norwegen vorn bei E-Auto-Nutzung
Nicht nur Fahrräder werden in den Niederlanden zunehmend elektrifiziert. Wer hier unterwegs ist, dem fallen schnell die vielen E-Autos auf den Straßen auf. Noch liegt der Anteil im einstelligen Prozentbereich. Aber das Wachstum ist jedes Jahr deutlich.
Damit sind die Niederlande Vorreiter, sagt Renee Heller, Professorin für Energie und Innovation an der Fachhochschule Amsterdam:
"Ich denke Norwegen und die Niederlande führen weltweit das Feld an, wenn wir uns die Menge der E-Autos anschauen."
Heller zeigt auf eine Straßenecke vor der Hochschule. Dort steht einer der Gründe, warum Elektroautos hier so verbreitet sind:
"Wir stehen hier neben einer Ladestation. Da können zwei E-Autos angeschlossen werden. In den Niederlanden müssen 60 Prozent der Leute ihre Autos im öffentlichen Raum parken. In großen Städten sind es eher 90 Prozent. Deswegen hat die Stadtverwaltung in diese öffentliche Infrastruktur investiert. Das war wichtig für die Verbreitung von E-Autos. Die Leute konnten so sicher sein: Wenn sie nach Hause kommen, können sie ihr Auto laden."
Ladesäulen können beantragt werden
Es gibt Apps und Karten online, die die knapp 69.000 Ladestationen im Land zeigen. Deutschland kommt mit 23.000 nur auf ein Drittel der Menge. Wer in Amsterdam keine Ladesäule in der Nachbarschaft hat, kann sogar eine bei der Stadt beantragen.
Aber es gibt noch einen Grund, der die Menschen hier zum Kauf von E-Autos motiviert hat.
"Die Steuervergünstigung für elektrische Firmenwagen. Das war eine kluge Entscheidung. Damals gab es vor allem eher teure E-Autos. Und im Segment der Firmenwagen werden eher teure Autos gekauft. Das passte also gut."
Der Strom stammt zum großen Teil aus fossilen Energien
Der Anreiz funktioniert. Gut 20 Prozent der verkauften PKW in den Niederlanden waren 2020 Elektro-Autos. In zehn Jahren sollen alle verkauften Neuwagen E-Autos sein.
Allerdings gibt es einen Wermutstropfen, der die Umweltverträglichkeit der E-Autos stark einschränkt: Nur 26 Prozent des Stroms in den Niederlanden kommen derzeit aus erneuerbaren Quellen. De facto werden sie also zum Großteil mit fossiler Energie angetrieben.
Bis 2030 soll der Strom immerhin zu 70 Prozent aus erneuerbaren Quellen stammen.
Stromnetz im Stress
Renee Heller sieht aber noch ein anderes Problem: Würden nach Feierabend künftig Millionen von E-Autos gleichzeitig zum Laden angeschlossen, würde das Stromnetz das gar nicht verkraften.
"Der Netzbetreiber in Amsterdam hat dazu jüngst eine Studie durchgeführt und herausgefunden: Es gäbe dann an verschiedenen Schnittpunkten Probleme. Wir wissen also, für die Elektrifizierung der Gesellschaft müssen wir das Netz ausbauen, und das können wir klug oder dumm machen."
Man könnte mehr Kabel verlegen und so für mehr Kapazität sorgen für die Stoßzeiten am Abend. Smarter wäre es, das Laden von E-Autos neu zu denken, sagt Renee Heller.
"Derzeit ist das ein relativ einfaches System. Du stöpselst dein Auto ein und bekommst Strom, auch zu Höchstlastzeiten. Aber mit neuartigen Signalen könnte man die Ladung etwas verzögern. Oder man könnte die Ladeleistung während der Spitzenzeiten etwas drosseln und dann später erhöhen. Oder man könnte in Intervallen laden."
Die Energie-Expertin hat das smarte Laden im Rahmen eines Projekts erforscht. Sie glaubt, wenn Auto, Ladesäule und Stromnetz miteinander kommunizieren, könnte das das Netz enorm entlasten.
Nur den niederländischen Auto-Besitzern müsste man ein solches flexibles Laden dann noch schmackhaft machen – im Zweifelsfall mit Geld. Schließlich haben sich finanzielle Anreize beim Kauf von E-Autos schon bewährt.
Entscheidungsträgern fehlt die Alltagspraxis
Bürgerproteste für mehr sichere Radwege, E-Bikes für Berufspendler, Steuervergünstigungen für elektrische Firmenwagen – was können andere Länder wie Deutschland noch von den Niederlanden lernen?
"Das beste ist, ihr kommt mal her und fahrt mit meinen Kindern Fahrrad", sagt Mobilitätsexperte Geert Kloppenburg. "Dann seht ihr, wie viel Freiheit und Unabhängigkeit entsteht, wenn man die Straßen richtig plant."
Kloppenburg glaubt, politische Entscheidungsträger müssten Dinge wie Car-Sharing und E-Bikes öfter selber ausprobieren: "Das sind oft hoffnungslose Fälle. Die haben keine Ahnung."
Der Niederländer glaubt auch, dass es darauf ankommt, die richtigen Fragen zu stellen:
"Fragt man die Leute: Wie wünschst Du dir deine Mobilität? Dann kommen da Antworten wie: ‚Ich will mein Auto vor dem Haus parken.‘ Und so entstehen dann Berichte in denen steht: Wir haben Hunderttausende Menschen gefragt und alle wollen ihre Autos vor dem Haus parken."
Die Straße als öffentlicher Raum für Bürger
Wenn Kloppenburg für seinen Podcast unterwegs ist, fragt er stattdessen:
"Wie soll deine Straße aussehen? Was soll da stattfinden? Dann lautet die Antwort: ‚Ich hätte gern eine ruhige Straße, an der ältere Menschen spazieren gehen und auf der Kinder spielen können. Ich hätte gern einen öffentlichen Raum, wo ich ein Buch lesen oder grillen kann.‘ Die Menschen beantworten die Frage dann als Bürger, nicht als Konsumenten."
Am liebsten wäre es dem Mobilitätsexperten, wenn Mobilität zweitrangig wird. Wir sollten mehr darüber nachdenken, wie wir leben und wohnen wollen, sagt er, und nicht darüber, wie wir von A nach B kommen.
Er glaubt, dann würden wir unsere Straßen wieder als öffentlichen Raum wahrnehmen und nicht nur als Verkehrssystem.