Radikale Ideen unters Volk bringen

Im Westen ging man in den Copyshop, im Osten in den Untergrund

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Studierende demonstrieren im April 1969 mit Plakaten und Flyern. Gegenüber stehen ihnen uniformierte Beamte hinter einem Zaun.
Keine Demo ohne Flugblätter: Studierende demonstrieren an der Bannmeile vor dem Landtag in Düsseldorf gegen den Hochschulgesetzentwurf. © dpa/ picture aliance/ Horst Ossinger
Von Ulrich Land |
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Der Kopierladen als Keimzelle der Revolution: Was wären die 68er ohne die Flugblätter gewesen, mit denen sie ihre Ideen unters Volk brachten - vom Klassenkampf zur internationalen Solidarität? DDR-Oppositionelle mussten mangels Kopierern kreativer sein.
Der Youtube-Influencer Rezo kann sich diese Zeiten wohl kaum mehr vorstellen, als man oppositionelles Gedankengut nur durch Flugblätter und Flugschriften verbreiten konnte. Nach der 68er-Revolte umwehte daher die Kopierläden – später: Copyshops – ein Hauch von Revolution: Hier wurden die Flugblätter vervielfältigt, die dann in den Universitäten oder an Fabriktoren verteilt oder auf Mensatischen ausgelegt wurden. Vom Kopierer frisch auf den Tisch: das revolutionäre Gedankengut.
Mit anarchistischer Verve wurden die Fenster des Kopier-Centers zentimeterdick mit jenen revolutionären Plakaten und Flugblättern zugekleistert, die soeben drinnen an den Kopiermaschinen entstanden waren. Nicht wenige radikale Genossen, Hausbesetzer, Maoisten brachen ihr Studium ab, um einen Kopierladen zu gründen. Und den Befreiungskampf des Proletariats und den anti-imperialistischen Internationalismus durch engzeilige, von den schwarzen Streifen der Kopiermaschinen durchzogene Druckerzeugnisse nach vorn zu bringen.

Ausschwärmen zur Flugblattaktion

Kopierläden waren auch Orte, an denen Revoluzzer mutmaßliche Gesinnungsgenossen ansprachen, um sie für den Kampf um die Befreiung der Menschheit zu gewinnen.
"Ich stand am Kopierer und sah beglückt zu, wie er hundert Exemplare meines pazifistisch durchdrungenen Neujahrsbriefs ausspuckte, mit denen ich meine Freunde und Mitstreiter zu bedenken gedachte", erinnert sich ein Gesprächspartner in Ulrich Lands Feature. "Als mich eine von Köhlingers Aushilfen ansprach, die einen kurzen Blick auf meine Kopiervorlage geworfen hatte und mit bebender Stimme verkündete, ich müsse mich organisieren. Und sie wisse auch wo: Am kommenden Mittwochabend treffe sich – offen für alle – der Kommunistische Bund in einem Hinterhof am Eifelwall, um von dort aus zu einer Flugblattaktion auszuschwärmen."

In der DDR waren Kopierer rar gesät

Während in Westdeutschland der revolutionäre Kampf letztlich ein Spiel im großen Generationenkonflikt der 70er- und 80er-Jahre war, ging es in der DDR um das Durchbrechen politischer Tabus, das für alle Beteiligten nicht nur technisch mühsam, sondern auch gefährlich war. Wer ungenehmigte oppositionelle Druckerzeugnisse erzeugte und vervielfältigte, riskierte, eingesperrt zu werden. Die aufbegehrenden Ostdeutschen der 80er-Jahre hatten daher nicht nur mit einer veralteten Matrizen-Drucktechnik und Papiermangel zu kämpfen – sie mussten auch sorgfältig darauf achten, dass die Stasi ihr Treiben nicht entdeckte.
"Das Vervielfältigen war eine große Herausforderung, weil es sehr wenige Geräte gab. Einerseits war es beabsichtigt, dass man sozusagen die Möglichkeiten einschränkte, um es Oppositionellen nicht so leicht zu ermöglichen, Informationen weiterzugeben", sagt der Historiker Peter Itzen. "Andererseits herrschte in der DDR eine extreme Mangelwirtschaft, gerade von technologischen, hochwertigeren Geräten, und das gilt dann eben auch für die Kopiergeräte, die ausgesprochen rar gesät waren."

Eine Druckmaschine aus dem antifaschistischen Widerstand

Dresdner Anarchisten brachten trotz aller Widrigkeiten ihr oppositionelles Gedankengut in Umlauf:
"Wir haben zum Beispiel zum Wahlboykott aufgerufen", so die DDR-Anarchistin Johanna Kalex. "Wir hatten ja eine Druckmaschine in Dresden, also darauf kann man schon gut auch zehn Jahre abfassen. Das war 'ne Druckmaschine, wir haben immer gesagt: die kommt noch aus dem antifaschistischen Widerstand, haha, musste man jedes Blatt einzeln einlegen, dann mit der Hand leiern, und dann kam das ziemlich schlecht gedruckt auf der anderen Seite wieder raus."
Aller Widrigkeiten zum Trotz – am Ende waren die DDR-Oppositionellen stärker als das Regime. Im Herbst 1989 konnte es die freie Verbreitung aller Ideen und Gedanken nicht mehr verhindern.

Literaturhinweis:
Peter Wensierski: "Fenster zur Freiheit. Die radix-blätter. Untergrundverlag und -druckerei der DDR-Opposition"
Herausgegeben vom Archiv Bürgerbewegung Leipzig e. V.
Mitteldeutscher Verlag 2019
212 S. + 28 S. Illustrationen