Weitere Informationen zu dem Festival finden Sie auf der Homepage des Maxim Gorki Theaters.
Ein Festival der Provokation und Selbstbefragung
Am Berliner Maxim Gorki Theater findet aktuell der 3. Herbstsalon statt. Zuvor wurde bereits das Festival "Radikale Jüdische Kulturtage" veranstaltet, mitkuratiert von Sasha Marianna Salzmann. Wie beim Herbstsalon lautete auch hier das Motto "Desintegration".
Haben Sie schon einmal einen Nazi geschlagen? Also so richtig, mit der Faust ins Gesicht!? So mitten rein? Ein Demonstrant in Washington, D.C. hat es getan. Auf offener Straße. Der Neonazi Richard Spencer gibt während Donald Trumps offizieller Amtseinführung ein Interview. Plötzlich springt ein vermummter Mann ins Bild und streckt Spencer mit einem Faustschlag nieder.
Spielen mit dem Klischee des "Opferjudens"
Arkadij Khaet hat aus diesem Youtube-Hit, Videospielsequenzen und Filmzitaten, die sich wie Tarantinos "Inglourious Basterds" um ein jüdisches Rachemotiv drehen, eine laute, blutige Videocollage gemixt. "Punching Nazi" sei ein "guilty pleasure Film", der bewusst mit dem Klischee des "Opferjuden" spiele, sagt die Kuratorin und Künstlerin Sasha Marianna Salzmann:
"Kunst muss radikal nach vorne und das heißt, gar nicht zurückschlagen, sondern einfach nur Angriff."
Willkommen bei den "Radikalen jüdischen Kulturtagen"! Zehn Tage lang haben junge jüdische Künstler aus Deutschland, den USA und Israel das Studio Я des Berliner Maxim Gorki Theaters erobert. Ihr Motto: Desintegration.
Motto "Desintegration"
Man könnte auch sagen: Seht her, hier sind wir. Jung. Jüdisch. Radikal. Und wir machen Kunst. Kunst die aufrütteln will, die traditionelle Sehgewohnheiten auf das Jüdischsein heute und auf die Koordinaten der jüdisch-deutschen Beziehung aufbricht. So verspielt wie poetisch, so schrill wie provokant. Sasha Marianna Salzmann erklärt das Motto:
"Desintegration ist eine Forderung, die wir stellen. Also wir reden nicht mehr über Shoah, Israel, Antisemitismuserfahrung. Wir machen Kunst. Wir reden über das, was unser Leben heute im 21. Jahrhundert in Deutschland ausmacht und lassen uns nicht mehr stigmatisieren. Es ist aber eben auch eine Forderung, die tiefer greift und alle möglichen Communitys einlädt, sich zu distanzieren von den Zuschreibungen, die nicht ihre eigenen sind."
Max Czollek, Autor und Lyriker, hat das Programm zusammen mit Sasha Marianna Salzmann kuratiert.
"Also wenn die Leute mit mehr Fragen gehen, als sie gekommen sind, ist es schon mal kein schlechter Punkt."
Offensives Theater
Während zeitgleich in der Rykestraße die etablierten Jüdischen Kulturtage eher gewohnte und damit sichere Pfade der Kulturvermittlung beschreiten, suchen sie hier am Gorki-Theater gezielt nach etwas anderem.
Ihr Motto der "Desintegration" stammt von einem im vergangenen Jahr gestarteten Projekt. Dieses Mal nicht als Diskurs, sondern als offensives Theater. Oder, wie es sie es in einer Trailershow proklamiert: "Wir werden Berlin judaisieren!"
Selbstverortung und - befragung
Der künstlerische Leiter des Studio Я, Tobias Herzberg, sagt:
"Wir sind jetzt mittlerweile die dritte Generation nach der Shoah. Und die ist mittlerweile natürlich radikal diversifiziert, weil neue Menschen da sind, die sich nicht mehr ausschließlich mit einer Identität beschäftigen wollen, die auf Vergangenem fußt. Die eine Selbstverortung vornehmen wollen, eine Befragung. Wer sind wir und was haben wir zu sagen?
Adi Keissal ist zu Gast mit ihrer in Israel sehr populären Ars Poetica. Hebräische Lyrik wird gelesen, teils ohne Übersetzung. Ebenso Amir Shpilman mit seiner experimentellen Komposition "Tiferet". Inspiriert von der Kabbala, die sich der menschlichen Ausdruckskraft widmet. Sivan Ben Yishai hat das Eröffnungsstück "Vom Leben und Sterben des neuen Juppi Ja Jey Juden" auf die Bühne gebracht.
Ahnengalerie mit Scharfschützinnen
In Kontrast zum schlichten schwarzen Bühnenraum ist das Foyer des Studios Я dicht bebildert mit einer "Ahnengalerie der Auserwählten". Da schaut einen Leonard Cohen an, Hannah Arendt, Superman. Und die legendären Scharfschützinnen der siegreichen Roten Armee im Zweiten Weltkrieg. Die Bezugspunkte für jüdische Identität sind vielfältig.
Zur Premiere des vor Gewalt strotzenden "Punching Nazi"-Clips gibt es Kaffee und Rugelach im übervollen Foyer. Ohnehin wird hier viel mit Kontrasten gearbeitet. Es habe auch Einwände gegeben, an wen sich das Festival richten sollte, sagt Tobias Herzberg:
"Das Vokabular, mit dem wir agieren, dieses Vokabular entbehrt ja nicht einer gewissen Aggressivität. Und jetzt kann man das einerseits verstehen als eine Form von Spiel und Augenzwinkern. Man kann das aber auch vielleicht missverstehen als ein Türzuschlagen gegenüber einer Mehrheitsgesellschaft, die man hier vielleicht nicht haben will. Das ist eine Fehlinterpretation, aber das ist vorgekommen – kann man nur immer wieder appellieren: Aber ihr seid gemeint, wir meinen euch! Wir machen das nicht nur für uns."
Valeska Gert aus dem Sarg
9. November. Auf der Bühne: ein pinkfarbener Sarg, aus dem es dampft und schreit, bis ihm schließlich Marina Frenk alias Valeska Gert entsteigt. Eine hochgelobte und doch wenig bekannte jüdische Künstlerin, die Deutschland 1939 verlassen musste und im Exil in Amerika als genauso unangepasst galt.
"Ob wir als jüdische Künstler gelesen werden wollen, weiß ich auch nicht. Gut, das Festival heißt ‚Radikale Jüdische Kulturtage’, aber das ist natürlich eine Aufforderung zum Tanz, zum Spielen."
Und Max Czollek sagt:
"Ich glaube, dass das ja auch für alle Künstlerinnen und Künstler, die wir hier einladen, eine große Herausforderung ist, sich überhaupt in diesen Rahmen hineinzubegeben. Weil es ja nicht nur eine Möglichkeit öffnet, Kunst zu machen, sondern auch eine Gefahr bedeutet, eben jüdische Kunst zu machen."
In dichter Folge ertönen Fragen:
"Was ist ein Kontingentflüchtling?"
"Findet ihr es retro, wenn wir nie wieder Deutschland sagen?"
"Was ist deine Erfahrung mit Antisemitismus?"
"Bist du ein Kontingentflüchtling?"
"In welchem Filmstudio wurde die Mondlandung gedreht?"
"Haben die Juden oder die CIA das World Trade Center in die Luft gejagt?"
"Was genau ist denn dann ein Kontingentflüchtling?"
"Werde ich, wenn ich Gin Tonic mag, schneller zum Psychopathen?"
"Ist gemischte Ehe langsamer Holocaust?"
"Wie weit kann ich gehen, bis das hier weh tut?"
"Celan mit der Axt"
Sapir Heller, eine junge Regisseurin aus Israel, lebt seit etlichen Jahren in München. Sie hat Max Czolleks Bühnenstück "Celan mit der Axt" für das Studio R inszeniert. Heller berichtet von ihren Erfahrungen in Deutschland.
"Am Anfang, als ich nach Deutschland kam, hatte ich das Gefühl, immer wenn Leute meinen Akzent nicht erkannt haben, nach paar Minuten, hat man mich oft gefragt, wo kommst du eigentlich her und ich habe gesagt ´Israel` und dann war sofort so eine kurze peinliche Stille und in den Augen habe ich ein kleines ‚Entschuldigung’ gesehen."
Für Sapir Heller bedeutet Radikalität:
"Klar zu sagen, was Sache ist. Nicht irgendwie Fisch nicht Fleisch, nicht zwischen den Stühlen zu sitzen, sondern zu sagen, hey, wir sind hier, wir wollen nicht passiv das Spiel spielen, sondern aktiv mitbestimmen, wie die Spielregeln sind."
Konzert vor ausverkauftem Haus
Daneben durfte es auch ein musikalisches Bonbon auf der großen Bühne im Gorki geben, vor ausverkauftem Haus. Daniel Kahn and The Painted Bird, die hier ihr neues Album präsentierten.
Ist das radikal jüdisch? In The Butchers Share erzählt Kahn von Warenfetischismus, von Marx und Zivilisation, von Barbarei und moralischen Fragen. Gespielt zur Tanzmelodie einer alten Unterweltballade, die von einem jüdischen Gangster aus Odessa handelt. Daniel Kahn erklärt die Herangehensweise der Band.
"Wir mischen alt und neu, um eine alternative Zukunft zu schaffen. Kulturell und ästhetisch, musikalisch. Und diese radikalen jüdischen Kulturtage gehen für mich genau darum. Was ist radikal an dieser Identität, an dieser Kultur, an diesen Kulturen? Was heißt es, eine Tradition von Anti-Traditionen zu haben? Was ist subversiv an einer Tradition?"
Brumlik: Fokus Minderheitskultur
Einer, der das Treiben der jungen jüdischen Generation aus der Perspektive dessen betrachtet, der noch ganz andere Schlachten in diesem Lande geschlagen hat, ist Micha Brumlik, Senior Professor am Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Er berichtet von vergangenen Zeiten:
"Wir hatten in diesem Alter noch darum zu kämpfen, dass die Tatsache der Shoah überhaupt gesellschaftlich bekannt wurde und entsprechend politisch diskutiert wurde."
Das sei heute anders:
"Jedenfalls fällt mir auf, dass diese jüngere Generation sich das nicht zum Hauptthema gemacht hat, sondern dass sie sich vor allem als eine von mehreren Minderheitskulturen in dieser Einwanderungsgesellschaft unter dem Stichwort Diversität positionieren wollen. Im Sinne einer weiteren Emanzipation. Kultureller und persönlicher Art, nicht politischer."
Gemessen an der Lautstärke des Publikums dürfen die ersten "Radikalen jüdischen Kulturtage" als Erfolg gelten. Jeden Abend volles Haus. Partystimmung. Was hier auf künstlerische Weise verhandelt wurde, sind neue Fragen jüdischer Verortung in einer sich wandelnden Gesellschaft. Selbstbewusst, provozierend. Manchmal auch hineinstechend in das über Jahrzehnte aufgebaute, so fein justierte wie arrivierte deutsch-jüdische Verhältnis. Kurator Max Czollek:
"Ich glaube, in Bezug auf Judentum ist es relativ einfach, etwas zu produzieren, bei dem mir alle zustimmen würden. Weil es bestimmte, klar festgelegte Grenzen dieses jüdischen Raumes und dieses Verhältnisses zum Judentum in Deutschland gibt. Und es ist relativ schwierig, einen Ort aufzusuchen, bei dem ein nichtjüdisches Publikum widersprechen würde. Und dieser Raum, der interessiert mich. Ich glaube, dass dieser Raum eine wirkliche Erschütterung ermöglicht."