Identitätspolitik und Aufklärung

Wie universelle Werte begründen?

32:44 Minuten
Ein Kant-Denkmal ist mit pinker Farbe beworfen worden.
Wird als Rassist angegriffen, ist aber trotzdem unverzichtbar für die Ethik, meint Omri Boehm: der Philosoph Immanuel Kant. © picture alliance / dpa / Vitaly Nevar
Omri Boehm im Gespräch mit Catherine Newmark |
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Sind universelle Werte wie die Menschenrechte nur ein Deckmantel für imperialistische Interessen? Der Philosoph Omri Boehm meint: Die Kritik an der Aufklärung hat ihre Berechtigung, aber auf Universalismus können wir trotzdem nicht verzichten.
Menschen- und Bürgerrechte, die Garantie, dass alle Menschen, ungeachtet ihrer Herkunft, Anspruch auf Gleichbehandlung und individuelle Freiheit haben: Solche universellen Werte gelten als zentrale Errungenschaften der Philosophie der Aufklärung.
Bis heute bilden sie ein wichtiges Fundament von Verfassungen und Rechtssystemen demokratischer Staaten und sind in der UN-Menschenrechtserklärung von 1948 verankert.

Nichts als Identitätspolitik für die Kolonialmächte?

Doch im Zuge von Debatten über Identität und die Anerkennung diskriminierter Gruppen gerät dieses Erbe der Aufklärung zunehmend in die Kritik. Progressive linke Bewegungen erheben den Vorwurf, dass die Rede von universellen Werten von Anfang an scheinheilig gewesen sei.
Denn politisch ging die Aufklärung mit Rassismus und Kolonialismus einher. Ihre allgemeinen Werte galten nicht für alle. Insofern habe die Aufklärung selbst "Identitätspolitik" betrieben – allerdings für weiße, westliche Männer, zugunsten der Kolonialmächte.
Der in Israel geborene Philosoph Omri Boehm, Professor an der New School for Social Research in New York, hält diese Kritik für teilweise berechtigt.
In seinem aktuellen Buch "Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität" versucht er aber zu zeigen, dass das Problem nicht im Universalismus liegt, sondern in einer Entstellung der universalistischen Ideale schon in der Aufklärung selbst.

Rückkehr zu einem radikalen Universalismus

Der Spätaufklärer Immanuel Kant habe diese Entstellung schon klar erkannt – und mit ihm könne und müsse man Boehm zufolge zu einem wirklichen und radikalen Universalismus zurückkehren. Denn entscheidend sei, dass man den Menschen nicht auf ein Naturwesen reduziere, das wissenschaftlich beschrieben werden könne, sondern ihm aufgrund seiner Freiheit eine letztlich nur metaphysisch zu begründende Würde zuerkenne.
Dass sich auch bei Kant zeittypische rassistische Äußerungen finden ließen, ändert für Boehm nichts an dessen zentralem philosophischen Verdienst.

Ich bin vollkommen ungerührt davon, dass Kant, dieser tote weiße Mann, sich rassistisch oder misogyn geäußert hat. Was mich mehr bekümmert ist dagegen, dass viele Vertreter der politischen Linken jetzt das Kind mit dem Bade ausschütten und Menschen auf Wesen reduzieren, von denen möglicherweise Gebrauch gemacht werden kann, weil sie angeblich bloße Naturwesen sind.

Omri Boehm, Philosoph

Im Gespräch erklärt Boehm außerdem, warum er auch in der liberalen Mitte der Gesellschaft ein tief eingegrabenes Identitätsdenken erkennt - und äußert sich zum Streit um die documenta in Kassel, in dem ebenfalls unterschiedliche Identitätsansprüche aufeinandergestoßen seien.
(fka)

Omri Boehm: "Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität"
Aus dem Englischen übersetzt von Michael Adrian
Propyläen Verlag, Berlin 2022
176 Seiten, 22 Euro
Erscheint am 1.9.2022

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