Mindmap der Radiokunst
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Vor zehn Jahren begann es als Uni-Projekt mit dem Ziel, Studierenden den Zugang zu wichtigen Hörstücken zu ermöglichen. "Radiophonic Spaces" heißt jetzt das begehbare Radioarchiv, das in Basel und Berlin ausgestellt wird. Für Kuratorin Nathalie Singer "ein lückenhaftes Archiv, das wachsen kann".
Nathalie Singer: "Radiokunst ist den Menschen nicht bekannt! Auch in Institutionen der Bildenden Kunst: Die wissen noch nicht, was das ist. Diese Schätze, die es da wirklich gibt und die in den Archiven schlummern, die müssen wieder an die Öffentlichkeit!"
Åke Hodells Werk 'Spirit Of Ecstasy' von 1967 ist ein solcher Schatz. In seiner Rennwagen-Oper beschreibt der schwedische Klangkünstler das 20. Jahrhundert anhand von großen Automarken.
Seit das Medium Radio vor knapp hundert Jahren mit dem Senden begann, sind unzählige solcher Perlen entstanden. Die wichtigsten davon vermittelt Nathalie Singer Studierenden an der Bauhaus Universität in Weimar. Die Professorin unterrichtet dort den Studiengang 'Experimentelles Radio':
"Ganz ursprünglich war es, dass wir für die Lehre die Sachen hörbar machen wollten, damit die Studenten nicht nur im luftleeren Raum agieren und Radiokunstgeschichte mitbekommen, sondern sie Stücke auch hören können. Und da die ja relativ lang sind, eine Stunde, können wir sie nicht immer im Kurs zusammen hören."
Die erste Idee zu einem Archiv für Radiokunst entstand bereits vor knapp zehn Jahren. Zusammen mit der Universität in Arles und einigen Radiosendern entwickelte Singer damals das Projekt Sonosphere:
"Daraus entstand das Interesse für die Wissenschaft und Forschung zu arbeiten, und ich wurde Teil eines Forschungsprojektes, das heißt Radiophonic Cultures, das war jetzt drei Jahre in Basel bei Ute Holl angesiedelt - und Teil dieses Forschungsprojektes war, sozusagen eine Mindmap der Radiokunst zu erstellen und eine Ausstellung zu machen und die Archive künstlerisch zu verwerten, die wir in Weimar haben."
Die Mindmap thematisiert kulturelle und politische Zusammenhänge, die mit der Entstehung der Werke verbunden sind. In der Ausstellung lassen sich diese Informationen an Computerplätzen abrufen – auch zu Dziga Vertovs Stück ’Radio Ear / Radio Pravda' von 1925. Mit ihm wollte der russische Filmemacher die internationale Arbeiterschaft über das Hören verbinden. Nathalie Singer:
"Und es gibt die Studiokonstellationen. Die Technik, die die Stücke und Ästhetik beeinflusst hat. Und die Frage, inwieweit war der Techniker mit beteiligt. Was passiert da eigentlich in dieser Blackbox Studio? Und deshalb wollten wir das mal zusammenbringen mit Bildern oder Filmen aus Studios, die zeigen, wie man an der Bandmaschine oder an den Plattenspielern arbeitet – mit Texten, Zeitzeugenberichten."
Der englische Künstler Phillip Jeck untersucht seit den Achtzigerjahren, wie sich Plattenspieler als Instrument nutzen lassen. Seine Stücke entstehen in Verbindung mit Effektgeräten, durch die er Loops schickt.
Der künstlerische Umgang mit Schallplatten ist eine von 13 Kategorien, anhand derer sich die Mindmap erkunden lässt.
Ein anderer Themenstrang heißt 'Expanded Radio'. In ihm geht es um das Übertragen von Hörräumen, so wie bei Bill Fontanas Ohrbrücke zwischen Köln und San Francisco von 1987. Dabei treffen Klänge der beiden Städte via Satellit auf einem Mischpult zusammen.
Aktuelle Produktionen wie etwa GPS-basierte Hörspiele sind in der Abteilung ‘Mobile Radio’ zu finden. Und ganz frühe Radiokunststücke aus der Zeit, als das Übertragen von körperlosen Stimmen noch neu war, kann man in der Rubrik 'Radio der Geister' hören. Trotz dieser Fülle gibt es natürlich Lücken. Nathalie Singer:
"Es ist mir auch ganz wichtig, dass die Mindmap nicht ein gedruckter Katalog ist, sondern eine Internet-Plattform, so eine Form von Wikipedia, die sich ständig erweitern kann und verändert und ergänzt werden kann, korrigiert werden kann. So ein Archiv soll eben auch als lückenhaftes Archiv dargestellt werden und nicht als fertig kategorisierte Radiokunstgeschichte. Das ist ganz wichtig, dass es wachsen kann."
Um die knapp 200 in der Ausstellung zusammengetragenen Stücke zu hören, benötigt man ein ausleihbares Empfangsgerät mit Touchscreen. Im weitläufigen Foyer des Haus der Kulturen der Welt (HKW) kann man damit durch die eigenen Bewegungen im Raum auf Spurensuche gehen. Nathalie Singer:
"Da hängen Transmitter und wenn man sich denen nähert, ploppt ein Stück auf, und wenn man weggeht, dann verschwindet das wieder im Ätherrauschen. Und so sucht man sich seine Stücke und wechselt die Programme und ich kann auch auf einen Knopf drücken und sagen, das Stück will ich mir merken, weil es mir gefällt oder ich möchte später wissen, was es ist. Dann kann ich mich im Raum irgendwo hinsetzen und auf Archivmodus wechseln und mir wie eine Playlist meine Sammlung anhören."
Den Raum mit den von der Decke an Schnüren herabhängenden Transmittern hat der türkische Künstler und Musiker Cevdet Erek gestaltet. Von einem Turm strahlen drei gerichtete Lautsprecher dezente und atmosphärische Sounds in den Raum.
Dieser Turm grüßt gewissermaßen symbolisch all die Radio-Sendetürme, die wir kennen - und steht gleichzeitig für die kleineren Türme, die heute für Mobilfunk benutzt werden.
Die Technik mit den herabhängenden Schnüren passt sich jedem Raum an. Es geht nicht darum, Farben ins Spiel zu bringen oder Wände zu verändern. Es gibt nur einen visuellen Eindruck der Transmitter und von der Technik, um sie zu installieren.
Das Erkunden der radiophonen Arbeiten passiert alleine unterm Kopfhörer. Am Haus der Kulturen der Welt (HKW) ist allerdings auch der Diskurs ein wichtiges Element.
Das dreitägige Begleitprogramm ‘Der Ohrenmensch’ eröffnet die Ausstellung. Kuratiert haben es der Dramaturg und Regisseur Janek Müller und die Literaturwissenschaftlerin Katrin Klingan:
"Im Ohrenmensch haben wir versucht, einige markante Momente zu nehmen, von denen wir glauben, dass es interessant ist, gemeinsam mit Künstlern, dem noch einmal nachzuspüren - was sind die politischen Räume in der Radiophonie? Was passiert jetzt durch die Digitalisierung? Was könnte eine Schnittmenge sein zwischen dem Algorithmischen in der Digitalität und all dem, was uns das Radio in seiner klassischen Form hinterlassen hat?"
Ein fünfteiliges ‘Radiophones Funkkolleg’ geht solchen Fragestellungen nach. Bei einem der Panels sind die Beschaffenheit von Klangarchiven und das Hörgedächtnis Thema. An ihm ist auch die französische Klangkünstlerin Marie Guérin beteiligt.
Sie hat sich mit den Gesängen von Häftlingen beschäftigt, die der Sprachwissenschaftler Wilhelm Doegen 1915 in deutschen Kriegsgefangenenlagern gemacht hat. Guérin untersucht die Echos dieser Klänge und lässt sie mit zeitgenössischen Stimmen in einen Dialog treten.
Radiophonic Spaces ist eine vielschichtige Bestandsaufnahme der Radiokunst – zu einer Zeit, in der sich das Hören, nicht zuletzt durch Kopfhörer, verändert.
Wieviel Spaß das Hören machen kann und dass es manchmal auch einiges über gesellschaftliche Entwicklungen verrät, lässt sich in den nächsten Wochen im HKW überprüfen.
Ein Beitrag von Paul Paulun