Rätselhaftes Schiffsunglück

Wer ist schuld am Untergang der "Beluga"?

Bei seinem Untergang waren im März 1999 drei Fischer aus Sassnitz auf Rügen ums Leben gekommen.
Der geborgene Fischkutter "Beluga" im Sassnitzer Stadthafen © picture-alliance / ZB / Stefan Sauer
Von Silke Hasselmann · 06.05.2016
In Nacht vom 17. auf den 18. März 1999 versank der Fischkutter Beluga in der Ostsee. Die drei Besatzungsmitglieder starben. Offiziell heißt es, das Schiff sei überladen gewesen. Doch womöglich war das Militär an dem Unglück beteiligt.
"Die 'Mecklenburg-Vorpommern' kommt auch noch."
"Was?"
"Die MV kommt auch noch rein. Von Rostock ist die..."


Unterwegs vom Rostocker Stadthafen Richtung Ostsee bei leicht diesigem, kaltem Februarwetter.

"...dann geh mal auf ganz langsam und denn dreh nochmal nach Steuerbord. Drehen wir mal ´nen Drehkreis und..."
Mit dem 1957 gebauten und vom "Verein Technische Flotte" in Schuss gehaltenen Ex-Schlepper "Petersdorf" geht es auf der Warnow in die offene, ruhige See. Mit an Bord: Künstler vom Volkstheater Rostock. Sie stecken mitten in den Proben für das Stück "Beluga schweigt" und sollen nun ein Gefühl dafür bekommen, wie es sich für die dreiköpfige Besatzung des ähnlich großen Fischkutters SAS 104 BELUGA angefühlt haben könnte, als die sich einst bei genauso ruhig-kaltem Wetter von Rügen aus zur dänischen Ostseeinsel Bornholm aufgemacht hatte.
Ostsee-Ausfahrt mit Ensemblemitgliedern vom Volkstheater Rostock. (Mitte: Regisseurin von "Beluga schweigt", Yvonne Groneberg)
Ostsee-Ausfahrt mit Ensemblemitgliedern vom Volkstheater Rostock. (Mitte: Regisseurin von "Beluga schweigt", Yvonne Groneberg)© Deutschlandradio - Silke Hasselmann
Der Stoff eigne sich für eine Dramatisierung, weil der Untergang der BELUGA ein bis heute ungelöstes, vielschichtiges Rätsel ist, erklärt die Autorin und Regisseurin Yvonne Groneberg.
"Der Fall BELUGA sagt zumindest den Leuten an der Küste allen etwas in groben Zügen. Also ein kleiner Fischkutter ist untergegangen in der Nacht vom 17. zum 18. März 1999. Am selben Tag fand ein Seemanöver statt mit dem Namen JAGUAR. Die anwesenden Truppen trainierten für den sechs Tage später einsetzenden Kosovo-Krieg, bei dem ja auch NATO-Truppen vertreten waren. Und man vermutet einen Zusammenhang, weil ja die Unfallursache bis heute nicht wirklich aufgeklärt wurde."

Ostseeküsten-Bewohner erinnern sich an Untergang

Inspiriert wurde die Theaterautorin vor allem durch die NDR-Fernsehberichte von Lutz Riemann und Michael Schmidt sowie durch deren Buch "Der Fall Beluga - Ein Unglück auf der Ostsee und wie es vertuscht wurde". Ebenfalls zu dieser kleinen Ausfahrt eingeladen, übermittelt Michael Schmidt die besten Grüße seines erkrankten Kollegen und berichtet:
"Wir vertreiben uns die Freizeit seit vielen Jahren damit, indem wir an dem Thema arbeiten. Und deshalb ist es gut, wenn das Volkstheater Rostock das auch macht. Find´ ich gut, denn so ein Thema muss am Leben erhalten werden. Wir reden immerhin über drei tote Menschen. Ich hab die einfach nochmal mitgebracht, damit ihr wisst, dass es nicht abstrakt ist."
Michael Schmidt zieht drei alte Fotos aus einer Plastehülle.
"Das ist der Maschinist Hartmut Gleixner, der war damals Anfang 40. Das ist Frank Schneider, der Kapitän. Der war Mitte 30. Und als Letzter Martin Senfft, der Lehrling. Der war damals 17 Jahr alt. Seine Mutter ist heute noch - ich sag mal - psychisch krank, weil sie nicht über den Tod ihres Sohnes hinwegkommt. Und das sind Schicksale, die uns immer wieder anspornen, da nicht lockerzulassen."
Gut so, meint Kapitän a.D. und Bergungsspezialist Michael Egelkraut. Er ist Chef des Vereins "Technische Flotte" und sagt, er habe die drei Sassnitzer Hochseefischer nicht persönlich gekannt. Doch wohl niemand von der mecklenburgisch-vorpommerschen Ostseeküste, der 1999 mit der Seefahrt zu tun hatte, werde vergessen, was er beim Eintreffen der Unglücksnachricht empfunden hatte. Auch er nicht, sagt Michael Egelkraut:
"Ja, da kann ich mich entsinnen. Ich war im Hafen und habe mich gewundert, wie so ein Schiff überhaupt untergehen konnte. Es hatte ungefähr die Größe unseres heutigen Schleppers. Es sind sehr viele Mysterien."
"Haben Sie eine Meinung und wenn ja - wie sieht die aus?"
"Ich glaube, ein Schiffsuntergang in dieser kurzen Zeit grenzt schon einige Varianten aus. Wenn ein Schiff Leck schlägt, geht es nicht innerhalb von wenigen Minuten unter. Sind Ladungsverrutschungen die Ursache, deuten die sich auch an und nicht so schnell, dass das Schiff umschlägt."

Fremdeinwirkung möglich

Tatsächlich ist belegt, dass die BELUGA innerhalb von höchstens einer Minute untergangen sein muss. Ein Notruf wurde nicht abgesetzt. Die Männer hatten offenbar keine Chance, die bereitliegenden Rettungsanzüge zu greifen, denn die fand man im später geborgenen Wrack.
Dieses enorme Tempo spreche für eine Fremdeinwirkung und nicht dafür, dass die BELUGA völlig überladen gewesen sei und sich im Zusammenspiel mit technischen Problemen praktisch selbst versenkt habe, wie es diverse Untersuchungsbehörden später vertraten. Kapitän a.D. Egelkraut mit gebotener Vorsicht:
"Also, man muss sich da zurückhalten, und wenn man nicht dabei war, kann man das nicht hundertprozentig sagen. Aber es ist unwahrscheinlich. Das Ding ist untergepflügt mit 'ner Trosse. Die Behörden? Das wissen Sie heute auch. Ich bleib' mal bei dem Flüchtlingsthema. Da wird bestimmt auch wie früher der Ball flachgehalten. Und da das ein Manöver war im Rahmen der NATO, wird man nicht sagen: 'Wir haben ´nen Fischkutter untergepflügt'".
Es ist Samstag, 12. März 2016, 10 Uhr. Etwa 30 Menschen haben sich in dem kleinen Sassnitzer Kurpark an der Küstenpromenade beim steinernen Mahnmal für all jene Fischer aus Sassnitz und Umgebung versammelt, die seit 1950 in der Ostsee umgekommen sind. Die blaue Inschrift lautet: "Unseren auf See verbliebenen Hochseefischern zum ehrenden Gedenken". Rechts davon liegt ein großer Anker, links steckt eine kleine Namenstafel in der Erde. Hinter der Jahreszahl 1999 stehen die Namen der BELUGA-Besatzung: Martin Senfft, Hartmut Gleixner, Frank Schneider.
Ehrenstein für die auf See gebliebenen Hochseefischer in Sassnitz
Ehrenstein für die auf See gebliebenen Hochseefischer in Sassnitz © Deutschlandradio - Silke Hasselmann

Hinterbliebene versammeln sich am Todestag

Der von Kapitänswitwe Beate Schneider mitgegründete Verein "18. März" hat hierher geladen, und wie stets an dem Samstag unmittelbar vor dem Todestag sind Fischer, Freunde und Familienangehörige gekommen. Auch Christian Schneider.
"Ich bin 29 Jahre alt und der jüngste Sohn des Kapitäns der SAS 104 BELUGA."
Christian Schneider hält die kleine Rede, in der er die erfolgreiche Theaterpremiere von "BELUGA schweigt" in Rostock erwähnt. Und auch, dass der Petitionsausschuss des Bundestages demnächst beschließen will, ob er die Ursache für den Tod von drei Sassnitzer Fischern neu aufrollt. Wie er sich an die schreckliche Nachricht erinnert? Krischi, wie sie ihn hier zur Hause noch immer nennen, erzählt:
"Ich war zwölf zu dem Zeitpunkt und bin morgens geweckt worden von meinem Opa. Ich stand im Wohnzimmer auf einmal und hab mich gewundert, dass an einem Wochentag Oma und Opa morgens zu Hause sind. Das war schon mal ungewöhnlich für mich. Dann wusste ich nicht genau, was passiert ist. Dann hat Opa mir das alles erklärt."
Der Opa heißt Jürgen Stange und ist als Kapitän 42 Jahre zur See gefahren. Er wartet im Vereinssaal und lässt einen durchdringenden Ton erklingen.
"Also das ist die ehemalige Schiffsglocke vom Fischkutter WEISSWAL."
WEISSWAL hieß jener Kutter Baujahr 1957, den Jürgen Stange in seinen letzten Kapitänsjahren nach der Wende gefahren ist. Immer als Steuermann dabei: Schwiegersohn Frank Schneider. 1996 gibt Jürgen Stange seine Fischereilizenz ab. Die soll Frank bekommen, denn nur so kann der sich seinen Traum erfüllen: Kapitän sein auf einem eigenen Fischkutter.
Auf der Suche nach einem geeigneten Schiff werden die Männer in Finnland fündig, erinnert sich Jürgen Stange und auch, dass die Enkel mit einer Überraschung gewartet hätten: Der neue Kutter solle BELUGA heißen. Ein Beluga sei schließlich auch ein Weißwal.

Schwiegervater des Kapitäns glaubt nicht an Schlamperei

Drei Jahre später – 17. März 1999. Jürgen Stange arbeitet inzwischen in der Sassnitzer Hafenzentrale. An diesem Abend schiebt er Dienst und notiert kurz vor Mitternacht die reibungslose Ausfahrt der BELUGA Richtung Bornholm, wo sie alte Fischernetze erneuern wollen. Er wird als erster in der Familie des Kapitäns mitbekommen, dass die BELUGA unterwegs untergegangen ist und dass alle drei Besatzungsmitglieder verschollen sind.
Später wird Kapitän a.D. Jürgen Stange zur Bergung an die Unglücksstelle fahren und den Kutter seines Schwiegersohnes zum angestammten Liegeplatz in Sassnitz begleiten. Bei dieser Erinnerung schießen dem erfahrenen Fahrensmann die Tränen in die Augen.
"Wo er dann nachher hier ankam, der Kran hatte ihn so, naja, als wenn so´n kleines Kind angebracht wird. Also das war nicht schön."
Als er das Schiff betritt, fällt ihm sofort eines auf:
"18. März, morgens gegen 3 Uhr blieben ja die Uhren stehen. Hier hinten hängt ja sogar noch so´n Ding. Die sind ja elektronisch, und die blieben alle so bei 3 Uhr stehen. Wir nahmen dann an, dass das der Zeitpunkt des Untergangs war. Musste ja sein, ne."
Auch Jürgen Stange grübelt bis heute, was die Ursache gewesen sein könnte.
"So lange, wie ich jetzt hier in der Fischerei tätig war – auf diese Weise ist noch nie ein Schiff draußen geblieben. Einer, den haben sie aber oben in Kopenhagen rausgeholt, der wurde gerammt im Nebel. Dann war einer oben bei Norwegen, ein Holzkutter. Der ist explodiert, weil man früher mit Gasflaschen gearbeitet hat und mit Gas gekocht hat. Da hat die Maschine durch Undichtigkeit das Gas angesaugt und ist explodiert. Der steht auch auf dem Stein mit drauf. Und dann war einer, der wurde auch gerammt. Da waren auch ein paar Tote bei. Ansonsten – auf so eine Art und Weise bei ruhigem Wetter, das kann man nicht glauben."
Dass sein Schwiegersohn schlampig gearbeitet haben soll – es wäre eine Premiere gewesen. Das Schiff war der große Stolz seines Vaters, erinnert sich auch Kapitänssohn Christian.
"Für uns, für die Familie hieß das natürlich Unabhängigkeit, eine gute Einkommensquelle sozusagen. Aber für meinen Vater bedeutete das Freiheit. Zumindest habe ich das so damals erlebt. Er war superglücklich. Sobald Leute hier waren, hat er ihnen ganz stolz sein Schiff gezeigt. Das war seins. Das war seine Kommandobrücke. Neueste Technik damals gewesen und er war sehr, sehr stolz darauf."

Viele offene Fragen

Das Seeamt der Wasser- und Schifffahrtsdirektion Nord sieht nach siebenmonatiger Untersuchung die Ursachen in einer angeblichen Überladung des Schiffes. Es soll viele Tonnen Dreckwassers mitgeführt haben, das vom Schrubben der Fischverarbeitungsräume gestammt haben soll. Dazu seien technische Mängel und menschliches Versagen vor allem von Kapitän Frank Schneider gekommen.
Ein Schock für die Familien und Kollegen, zumal sich nach dem Lesen der Untersuchungsprotokolle jede Menge Ungereimtheiten zeigen. Warum wurden Entlastungszeugen nicht gehört, etwa die Freundin von Lehrling Martin Senfft, die noch am Abend des Auslaufens an Bord war und sagt, dass das Boot völlig trocken gewesen sei? Warum spielten die ersten Videoaufnahmen vom Bundesgrenzschutz keine Rolle? Weil sie der Theorie des Seeamtes widersprachen? – fragt sich Christian Schneider heute noch.
"Nicht nur, dass Aussagen nicht zugelassen wurden, klare Videobeweise einfach nicht übernommen wurden, sondern dass einfach falsche Schlüsse gezogen wurden zum Wesen der Seeleute. Also Sicherheitsverstöße des Kapitäns, der eigentlich bekannt war als Pedant."
Doch Ende 2001 bestätigt das Bundesoberseeamt in Hamburg die These, nach der die BELUGA ohne fremde Einwirkung, sondern zu schwer beladen untergegangen sei. Auch hier wurden entlastende Zeugen nicht angehört oder ernst genommen, Gegengutachten anerkannter Materialkundler und Schiffsicherheitsexperten ignoriert. Dabei waren die zu einem völlig anderen Schluss gekommen.
Die zahlreichen Schleifspuren und Schrammen auf dem Deckaufbau, am Schornstein und am herausgerissenen Bordkran legten ihrer Meinung nach nahe, dass die BELUGA von einem Stahlseil – einer sogenannten Trosse – abrupt herumgerissen worden sein muss und dann innerhalb kürzester Zeit mit dem Bug steil nach oben sank. Weil sich die aufblasbare Rettungsinsel in dieser Stellung unglücklicherweise unter dem Schornstein befand und sich nicht auslösen konnte, habe für die Besatzung keine Chance bestanden.
Doch der amtliche Vorwurf lautet bis heute: "technisches und menschliches Versagen auf der BELUGA". Was Kapitänssohn Christian Schneider heute, 17 Jahre später, empfindet?
"Trauer natürlich vor allem. Dann aber auch gepaart mit Wut und 'ner Hilflosigkeit demgegenüber. Leider."

Autoren glauben an Beteiligung des Militärs

Das kann Michael Schmidt gut verstehen. Seit langem geht der Schweriner Journalist gemeinsam mit dem Autor Lutz Riemann dem seltsamen Untergang des Sassnitzer Fischkutters nach. Hunderte Protokolle, Gutachten, Mitschriften haben sie gesichert, zahlreiche Interviews geführt, sehr früh Filmaufnahmen von der geborgenen, noch verschrammten BELUGA gemacht.
Schmidt und Riemann behaupten nicht zu wissen, wer die BELUGA zum Untergang gebracht hat. Doch in zwei Punkten seien sie sich absolut sicher, sagt Michael Schmidt: Die drei Männer auf dem Kutter seien nicht aus eigenem Verschulden in der Ostsee gestorben. Und: Das Militär sei in den tragischen Unfall verwickelt.

"Fazit für uns: Es kann nicht so sein, wie von offizieller Stelle aus immer wieder bekräftigt. Ich denke, sowohl Seeamt als auch Bundesoberseeamt haben sich viel zu schnell mit den offiziellen Informationen der Marine zufrieden gegeben, und haben – aus welchen Gründen auch immer – schlicht und einfach nicht nachgefragt."
Das gilt auch für die Staatsanwaltschaft Stralsund und für den Generalstaatsanwalt von Mecklenburg-Vorpommern. Für sie ist 2004 endgültig Schluss mit den Ermittlungen gegen Unbekannt wegen fahrlässiger Tötung und unterlassener Hilfeleistung.
Dabei hatten auch die Strafverfolger nie die Behauptung der Marine überprüft, dass in der Nacht der BELUGA-Überfahrt von Sassnitz nach Bornholm kein Marineschiff in diesem Ostseegebiet unterwegs gewesen sei. Man habe sich beim NATO-Manöver JAGUAR genau an die vorab angezeigten Einsatzzeiten gehalten.

Augenzeugen: Schüsse in der Unglücksnacht

Tatsächlich hing ein solcher Einsatzzettel in der Sassnitzer Hafenzentrale aus. Doch Michael Schmidt kann belegen, dass in der Nacht vom 17. zum 18. März 1999 sehr wohl Kriegsschiffe im fraglichen Ostseegebiet Adlergrund unterwegs gewesen sind, und dass dort sogar heftig geschossen wurde.
"Dafür gibt es Augenzeugen: deutsche Fischer, Fischer von Bornholm, also dänische Fischer. Die haben uns auch belegen können anhand ihrer Radaraufzeichnungen und anhand einer Kontrolle durch die Fischereiaufsicht, dass dort in der Zeit, in der sie auch gefischt haben, Manöverhandlungen stattgefunden haben. Wir haben aber inzwischen auch herausgefunden, dass es ein Behördenschiff gegeben hat – die BUK. Ein Tonnenleger damals, inzwischen außer Dienst gestellt. Dieser Tonnenleger wurde in der Nacht des Unglücks, also am frühen Morgen des 18. März 1999, in dieses Seegebiet gerufen, weil er dort eine vertriebene Gefahrentonne bergen sollte, und landete dort genau in dem Seegebiet, wo die BELUGA untergegangen ist, und traf auf mehrere Marineschiffe."

Auf dem Schiff, das Fahrrinnen und Untiefen mit Tonnen markiert, wusste zu dieser Zeit noch niemand von dem Unglück. Man habe sich nur gewundert, dass man von Kriegsschiffen aus einem Seegebiet vertrieben wurde, wo die zu diesem Zeitpunkt gar nicht gewesen sein sollen. Zumindest laut Marine und Bundesverteidigungsministerium, die auch behaupteten, damalige Radaraufnahmen der Schiffsbewegungen seien leider schon gelöscht worden. Das sei für das Militär völlig ungewöhnlich, meint Michael Schmidt nach jahrelanger Recherche. Und überhaupt:
"Also da ist getürkt, da ist betrogen, da ist geschummelt worden ohne Ende."
Doch warum? Ist der Rügener Fischkutter vielleicht einer besonders geheimen Übung in die Quere gekommen, bei der eine straff gespannte Stahltrosse eine Rolle gespielt hat? Was, wenn zum Beispiel zwei parallel fahrende Kriegsschiffe zwischen sich ein solches hunderte Meter langes Stahlseil über der Wasseroberfläche spannten, wie man das gelegentlich tut, um in Sperrgebieten Schmuggler, Piratenboote, kleinere Kriegsschiffe oder treibende Seeminen aufzubringen? Sprich: zu stoppen oder im Zweifel auch unterzupflügen. Das werde gelegentlich geübt, bestätigen Marine-Insider.

Marinekenner: Zwei ausländische Kriegsschiffe mit Stahltrosse

Bei den Journalisten Riemann und Schmidt meldete sich zudem kürzlich ein Zeuge. Zumindest behauptet der Mann, zur damaligen Zeit in hohen Marinekreisen unterwegs gewesen zu sein und erfahren zu haben, was in der Märznacht 1999 mit der BLEUGA wirklich geschehen sein soll:
"Der sprach ganz klar davon: Es waren zwei ausländische Kriegsschiffe. Die haben zwischen sich eine Stahltrosse gespannt, und zwar jeweils am Heck circa drei Meter über der Wasseroberfläche. Dann sind die mit voller Kraft voraus. Das eine Schiff immer ein bisschen mehr Backbord, das andere ein bisschen mehr Steuerbord gehalten, damit die Stahltrosse auch gespannt ist. Das wird nicht oft gemacht, so ein Manöver. Aber es wird gemacht."
Die Positionslichter der Kriegsschiffe waren sicher ausgeschaltet. Womöglich hatte die Marine in dieser Zeit auch die die zivilen Radaranlagen in diesem Seegebiet gestört. Das werde auch in der Ostsee häufiger gemacht, berichten Insider, und es würde erklären, warum auf der BELUGA niemand die nahenden Kriegsschiffe bemerkt hatte und warum von dem Kutter kein Notruf kam.
Doch dieser Teil der Ursachensuche ist Spekulation. Handfester sind die Schleifspuren am Schornstein und am herausgerissenen Bordkran. Denn die befinden sich dort, wo eine von hinten kommende Trosse den Kutter zuerst getroffen haben würde.
"Ja, wenn man sich einmal die Heckhöhe solcher Kriegsschiffe anschaut, dann käme das in etwa hin. Wie gesagt, es sind Vermutungen. Wir würden sie gern in der Praxis überprüfen lassen. Aber dazu fehlt einfach die Bereitschaft sowohl der Deutschen Marine als auch der ausländischen Manöverbeteiligten. Denn jedes Manöver wird exakt ausgewertet. Da gibt es Radaraufzeichnungen, Schiffstagebücher, alles Mögliche – alles gesperrt. Wir haben sogar versucht, an die militärischen Überwachungssatelliten heranzukommen. Kommt man nicht ran. Nicht einmal mit anwaltlicher Hilfe."

Geheime militärische Übungen für Kosovo-Krieg?

Warum will die Marine nicht helfen, den seltsamen Untergang der BELUGA aufzuklären? Er wisse es nicht und er sei auch kein Anhänger von Verschwörungstheorien, nach denen Militär und Geheimdienste immer etwas Böses im Schilde führen, sagt Michael Schmidt. Er vermutet, dass es sich um einen tragischen Unfall gehandelt hat, aber:
"Wir dürfen nicht vergessen, eine Woche nach dem Unglück vom März '99 begann der Kosovo-Krieg, und nachweislich hat das Manöver JAGUAR bestimmte Dinge geprobt, die dann in der Adria praktisch umgesetzt wurden. Dass da natürlich auch eine bestimmte Geheimhaltung, ein bestimmtes Vorgehen eine Rolle spielen, das ist völlig klar. Aber das heißt doch nicht, dass man einfach über den Tod von drei Seeleuten hinweggehen kann. Zumindest hätte man erwarten dürfen, dass Hilfeleistung erbracht wird. Es geht ja gar nicht mal darum, dass wir beweisen wollen: Das und das Schiff war ursächlich Schuld am Tod der drei Fischer. Nein. Hier geht´s erst mal darum, überhaupt die Karten auf den Tisch zu packen, waren wir dort oder waren wir nicht dort. Aber nicht einmal dazu reicht es ja."

Theaterstück nah an der Realität

Auch das Rostocker Theaterstück "Beluga schweigt" arbeitet sich in der aktuellen Spielzeit an dem merkwürdigen Verhalten der Marine ab.
Originalton aus dem Stück: "Herr Masur, ich brauche Ihre Unterstützung. Sagt Ihnen der Name BELUGA etwas?" "Sie meinen Sie den Kaviar?" "Nein, ich meine den Schiffsuntergang. Also einer der drei Fischer war mein Vater. Er war Auszubildender bei der BELUGA…."
Der 17-jährige Lehrling Martin Senfft hatte eine Freundin, und diesen Faden nimmt die Autorin und Regisseurin Yvonne Groneberg auf.

"Der Erik ist unser Hauptheld. Der ist 17, hat bei der Marine einen lukrativen Ausbildungsvertrag erhalten und kommt zu seiner Mutter, die die Freundin des Auszubildenden ist, der auf der BELUGA untergegangenen ist. Das ist schon eine fiktive Behauptung. Sie verbietet ihrem Sohn zur Marine zu gehen, weil sie sagt: 'Die Marine hat deinen Vater umgebracht.' Er wusste es nicht, weil sie geschwiegen hat all die Jahre und damit zu kämpfen hatte, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Und so geht praktisch eine Ermittlung los, eine Recherchereise dieses 17-jährigen Erik auf der Suche nach seinem Vater. Ganz konkret will er beweisen, dass die Marine nicht Schuld hatte."
Originalton aus dem Stück: "Sehr geehrter Erik Brand! Bezüglich des von Ihnen angefragten Fischerkutters BELUGA kann ich Ihnen mitteilen, dass der Vorgang bei uns im Ministerium tatsächlich aktenkundig ist (…) Eine schuldhafte Beteiligung der Bundesmarine wurde durch die zuständige Staatsanwaltschaft ausgeschlossen, welches auch im Spruch des Hohen Amtes rechtsverbindlich erklärt wurde. Eine darüber hinausgehende Einsicht in die Akten der Bundesmarine ist leider --- ist leider aus Gründen des Geheimschutzes nicht möglich."

Das Militär verstrickt sich in Widersprüche, und es mauert es vollends. Erfahrungen, die im wahren Leben vor allem Kapitänswitwe Beate Schneider sammeln musste.
"Ich fand, das war wirklich gut dargestellt, und alles, was gesagt wurde, ist die Wahrheit. Also, es ist auch wirklich so, wie es in den Akten steht. Die Hauptfrage ist, wie ist es wirklich passiert? Mein Mann wird ja nach wie vor als der Schuldige dargestellt, und jeder, der mit der Seefahrt zu tun hat, sagt, so kann es nicht gewesen sein. Ich kann einfach nur immer wieder danke sagen, dass es wirklich Leute gibt, die sich immer wieder dahinterklemmen. Ich habe ja auch verschiedene Sachen versucht. Also die Briefe von dem Sohn des Lehrlings, die habe ich damals ans Verteidigungsministerium usw. geschickt. Und da kam ja immer als Antwort entweder: 'Sind schon gelöscht, die Aufnahmen'. Oder: 'Wir können Ihnen nicht weiterhelfen und es hat auf jeden Fall nichts mit der Marine zu tun'".
Mitglieder des Ensembles des Rostocker Volkstheaters bei der Premiere des Stücks "Beluga schweigt"
Mitglieder des Ensembles des Rostocker Volkstheaters bei der Premiere des Stücks "Beluga schweigt"© Deutschlandradio - Silke Hasselmann

Sohn des verunglückten Kapitäns träumt von der Seefahrt

Der von Beate Schneider mitgegründete "Verein 18. März" hofft derweil weiter auf neue Zeugen und kämpft darum, die Wahrheit über den Tod von Frank Schneider, Hartmut Gleixner und Martin Senfft zu erfahren. Auch der inzwischen in Berlin lebende Christian "Krischi" Schneider will das wissen. Übrigens: Dass der 29-Jährige in seinem Start up-Unternehmen Parkplatz-Apps für Smartphones entwickelt statt auf hoher See zu fischen, das hänge vor allem damit zusammen, dass dafür vor zehn bis zwölf Jahren nirgends mehr Lehrlinge gesucht worden seien.
"Ich hatte mich damals auch beworben hier auf einem Kutter in Sassnitz. Und da hieß es schon: 'Ja, wir würden dich gern haben, wissen aber nicht, ob wir uns dich leisten können. Da dachte ich: 'Ok, wenn das jetzt schon so anfängt, dass die Leute nicht wissen, ob sie genug Geld haben, um sich einen Lehrling zu leisten – warum soll ich damit überhaupt anfangen?' Und das ist schade, dass so ein Wirtschaftszweig hier wegbricht.
Wir stehen ja jetzt hier im Hafen, und von Jahr zu Jahr, wenn wir uns hier treffen, werden es immer weniger Schiffe. Und die Schiffe, die da sind, machen Touristenfahrten oder verkaufen Fisch. Mit Fangquoten, mit Überfischung der Ostsee ist halt viel weggebrochen, und es lohnt kaum noch."
Der Hafen von Sassnitz
Der Hafen von Sassnitz© Deutschlandradio - Silke Hasselmann
Doch das ändert nichts daran, dass auch er das Meer liebt – genau wie einst sein Vater, der stolze BELUGA-Kapitän.
"Ich wollte immer zur See fahren. Als kleiner Junge schon wollten ich eben auch Fischer werden und bin dann meinem Vater, meinem großen Idol, nachgeeifert. Auch wäre ich super gerne auf der BELUGA gefahren. Auch wenn sie nicht untergegangen wäre, hätte ich das trotzdem nicht geschafft. Ich hab' das damals meinem Vater gesagt: 'Ich werde bei dir auf der BELUGA fahren. Er sagte: 'Nein, wirst du nicht.' 'Aber wieso? Da kenne ich mich doch schon aus!' 'Ja, eben drum.' Ein wahnsinniger Rat, den ich heute immer noch befolge: 'Krischi, du musst auf einem anderen Boot mitfahren. Du musst mehr kennenlernen als du schon kennst!'"
Mehr zum Thema