Rafael Cardoso: "Das Vermächtnis der Seidenraupen"
Deutsch von Luis Ruby, S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2016, 571 Seiten, 25,00 Euro
Das vergessene Leben meines Urgroßvaters
Zufällig stößt Rafael Cardoso auf das Romanmanuskript seines Urgroßvaters, der als Jude in Deutschland gelebt hatte und mit Rosa Luxemburg und Albert Einstein verkehrte. Diese spektakulären Erlebnisse seines Urgroßvaters hat Cardoso dann in seinem Roman verarbeitet.
Der Kunsthistoriker und Autor Rafael Cardoso wuchs in den USA auf, studierte dort, promovierte in London und wurde schließlich Professor in seiner Geburtsstadt Rio de Janeiro. Als er Mitte der 1980er-Jahre nach dem Tod seiner Großtante half, deren Haus in Sao Paulo auszuräumen, nahm er ein paar Kartons mit Fotografien, Briefen, historischen Dokumenten und ein unvollendetes Romanmanuskript seines Urgroßvaters mit. Lesen konnte er nichts, da das Meiste auf Deutsch geschrieben war.
Glücksfund bei Haushaltsauflösung
Was für einen Schatz er aber geborgen hatte, machte ihm einige Jahre später eine Wissenschaftlerin klar, die an ihrer Dissertation über deutschsprachige Exilanten in Brasilien arbeitete. Nach Sichtung des Materials - darunter auch ein Romanfragment von Cardosos Urgroßvater mit dem Titel "Seidenraupen", erklärte sie dem verdutzten Endzwanziger, dass dieser ein erfolgreicher Bankier, preußischer Finanzminister, bedeutender Kunstsammler und Mäzen gewesen sei: Hugo Simon, so Cardoso heute, "war Anfang des 20. Jahrhunderts eine der führenden Figuren im kulturellen Leben von Berlin". Er war bekannt mit Walter Rathenau, Friedrich Ebert und Rosa Luxemburg. Max Liebermann und Albert Einstein verkehrten in seinem Haus, Harry Graf Kessler und Aristide Maillol.
Wie hatte es kommen können, dass die spärlichen Spuren eines so reichen Lebens in Sao Paulo gelandet waren? Bis zum Alter von sechzehn Jahren hatte Cardoso geglaubt, er habe französische Wurzeln. Dann erfuhr er, dass es deutsche und jüdische waren. Für sein Leben hatte das anfangs keine Bedeutung. Nachdem ihm aber klar geworden war, dass die eigene Familiengeschichte historische Ausmaße besaß, lernte er Deutsch und zog nach Berlin, um sie genau zu recherchieren.
Wie hatte es kommen können, dass die spärlichen Spuren eines so reichen Lebens in Sao Paulo gelandet waren? Bis zum Alter von sechzehn Jahren hatte Cardoso geglaubt, er habe französische Wurzeln. Dann erfuhr er, dass es deutsche und jüdische waren. Für sein Leben hatte das anfangs keine Bedeutung. Nachdem ihm aber klar geworden war, dass die eigene Familiengeschichte historische Ausmaße besaß, lernte er Deutsch und zog nach Berlin, um sie genau zu recherchieren.
Von Deutschland, über Spanien nach Brasilien
Das Ergebnis dieser Anstrengung ist "Das Vermächtnis der Seidenraupen. Die Geschichte einer Familie", eine über 500 Seiten starke Doku-Fiktion. Darin rekonstruiert Cardoso vor allem das Leben seiner Urgroßeltern und Großeltern im Zeitraum von 1930 bis 1945. Bis zur Machtübernahme der Nazis lebten die wohlhabenden und angesehenen Bürger in der deutschen Hauptstadt. Hugo Simon war Aufsichtsrat mehrerer Unternehmen, beriet die Berliner Nationalgalerie bei ihren Ankäufen, sowie die Verlage Fischer und Ullstein. In der Mark Brandenburg betrieb er ein landwirtschaftliches Mustergut.
Im März 1933 floh er mit seiner Frau in die Schweiz, dann weiter nach Frankreich, wo bereits Töchter und Schwiegersohn lebten. 1937 wurde ihm die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. 1941 gelangte die Familie über Spanien und Portugal nach Brasilien.
Ein fast unglaubliche Geschichte
Die Stärke des Buches besteht in der Fülle historischer Details, die der Autor zu einem Sittenbild zusammensetzt. Den langsamen Verlust von Vermögen und bürgerlicher Sicherheit, die Not der Flüchtlinge, der Aufbau einer neuen Existenz in der Fremde - all das beschreibt Cardoso als allwissender Erzähler. Aber genau das macht die fast unglaubliche Geschichte letztlich papiern. Natürlich weiß der Autor nicht, wie Stefan Zeig beim Gespräch mit Hugo Simon geguckt hat, oder wer wann schwitzte, lächelte oder seufzte. Aber er tut so.
Anstatt sich selbst als Vermutenden, als Zweifelnden und Recherchierenden erzählerisch einzubringen, sein Material offenzulegen und in eine Beziehung zu seiner Position als Nachgeborener zu bringen, hat Cardoso ein hybrides Werk geschrieben - als Doku zu dünn, als Roman zu dick.
Anstatt sich selbst als Vermutenden, als Zweifelnden und Recherchierenden erzählerisch einzubringen, sein Material offenzulegen und in eine Beziehung zu seiner Position als Nachgeborener zu bringen, hat Cardoso ein hybrides Werk geschrieben - als Doku zu dünn, als Roman zu dick.