Raffiniertes Prinzip des Erzählens
Kathrin Gerlof hat einen Roman über die Zeit geschrieben. Jenes "sonderbar Ding", wie es in Richard Strauss' Oper "Der Rosenkavalier" heißt, das die menschliche Existenz fest im Griff hält. Zeit wird erwartet, fehlt, quält und wird genommen. Was als philosophische Frage die Menschheit seit Jahrhunderten in Bann hält, hat die Autorin sensibel und lustvoll in Szene gesetzt.
So meint Juli, mit 16 Jahren die jüngste Protagonistin des Romans, alle Zeit der Welt zu haben. Selbst noch ein Kind, hat sie gerade eine Tochter geboren. Juli spricht nicht von Glück. Aber sie beginnt zu spüren, was sie bislang vermisst hat: Zukunft. Am anderen Ende der Zeitskala befindet sich die 80-jährige Klara. Sie lebt in einem Heim für Demenzkranke. Noch steht sie am Rand ihres Absturzes in den zeitlosen Schacht der Krankheit. In klaren Momenten vermag sie lakonisch zu kommentieren, was da mit ihr geschieht. Nicht nur die Worte kommen ihr abhanden, auch das Gefühl für die Zeit. Juli ist ihre Urenkelin, aber das weiß Klara nicht. Was nicht an ihrer schleichenden Demenz liegt. Zwischen Klara und ihrer Tochter Henriette hat es vor vielen Jahren ein tiefes Zerwürfnis gegeben. Verrat nennt es Henriette. Denn die Mutter, einst eine überzeugte Verfechterin sozialistischer Moral, soll ihren Jugendfreund wegen des Verdachts auf Republikflucht ausgeliefert haben. Eingekapselt leben die Frauen seit jenem Ereignis jede für sich, beraubt der Fähigkeit, sich anderen vorbehaltlos zu öffnen.
In unterschiedlichen Erzählintervallen beleuchtet Kathrin Gerlof Lebensräume, die Einblick in nahezu sieben Jahrzehnte deutscher Geschichte geben. Man muss aufmerksam lesen, um die vielen Details zu bemerken, an denen sich Gerlofs Zeitreise orientiert. Und man muss geduldig sein. Denn der Roman basiert auf einem Erzählprinzip, das von der Störung lebt. So wird Klaras Sprechen und Erinnern von den Schüben ihrer Krankheit regiert. In knappen Andeutungen und Auslassungen schleppt es sich voran. Währenddessen wartet Henriettes Tochter, Elisa, darauf, dass endlich erzählt wird, was in der Vergangenheit geschah.
Damit unterläuft Gerlof ein vermeintlich selbstverständliches Erzählen, bei dem Inhalte einfach abgerufen werden. Ein raffiniertes Prinzip, das im Roman mehrfach variiert wird. Die literarischen Uhren ticken schließlich anders.
Für ihren zweiten Roman hat die Autorin mit "Alle Zeit" einen Titel gewählt, der als Utopie und Mahnung gelesen werden kann. Denn lebt man so hin, geht man verschwenderisch mit ihr um. Dann aber wird sie zum kostbarsten Gut und man spürt nichts als sie. Mit der Lektüre des Buches hat man Lebenszeit auf jeden Fall sehr sinnvoll genutzt.
Besprochen von Carola Wiemers
Kathrin Gerlof, Alle Zeit, Roman,
Aufbau Verlag 2009, 229 Seiten, 18,95 Euro
In unterschiedlichen Erzählintervallen beleuchtet Kathrin Gerlof Lebensräume, die Einblick in nahezu sieben Jahrzehnte deutscher Geschichte geben. Man muss aufmerksam lesen, um die vielen Details zu bemerken, an denen sich Gerlofs Zeitreise orientiert. Und man muss geduldig sein. Denn der Roman basiert auf einem Erzählprinzip, das von der Störung lebt. So wird Klaras Sprechen und Erinnern von den Schüben ihrer Krankheit regiert. In knappen Andeutungen und Auslassungen schleppt es sich voran. Währenddessen wartet Henriettes Tochter, Elisa, darauf, dass endlich erzählt wird, was in der Vergangenheit geschah.
Damit unterläuft Gerlof ein vermeintlich selbstverständliches Erzählen, bei dem Inhalte einfach abgerufen werden. Ein raffiniertes Prinzip, das im Roman mehrfach variiert wird. Die literarischen Uhren ticken schließlich anders.
Für ihren zweiten Roman hat die Autorin mit "Alle Zeit" einen Titel gewählt, der als Utopie und Mahnung gelesen werden kann. Denn lebt man so hin, geht man verschwenderisch mit ihr um. Dann aber wird sie zum kostbarsten Gut und man spürt nichts als sie. Mit der Lektüre des Buches hat man Lebenszeit auf jeden Fall sehr sinnvoll genutzt.
Besprochen von Carola Wiemers
Kathrin Gerlof, Alle Zeit, Roman,
Aufbau Verlag 2009, 229 Seiten, 18,95 Euro