Rahel Varnhagen und ihre Jugendfreundinnen

Außergewöhnliche Frauen in revolutionärer Zeit

10:53 Minuten
Rahel Varnhagen von Ense, geb. Levin, beeinflußte mit ihrem Salon in Berlin das literarische Leben. Porträtzeichnung von 1832, von Wilhelm Hensel (1794–1861).
Rahel Varnhagen schrieb sich mit Frauen sehr verschiedener Herkunft. Forscherin Barbara Hahn ist fasziniert von den Gedanken und der Beobachtungsgabe. © akg images
Barbara Hahn im Gespräch mit Andrea Gerk |
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Französische Revolution, Ehe und Scheidungen – Ende des 18. Jahrhunderts bildete sich um Rahel Varnhagen ein Netzwerk besonderer Frauen und tauschte sich über die Welt im Wandel aus. Die Schriftstellerin hob die Briefe auf – ein Glück für uns heute.
In den 1790er-Jahren sammelte Rahel Levin Varnhagen junge Frauen um sich und pflegte über Jahre eine ausgeprägte Briefkorrespondenz mit ihnen. In der spannenden Zeit nach der Französischen Revolution über den Wiener Kongress bis hinein in die 1830er-Jahre tauschten sich die Frauen aus. Barbara Hahn, emeritierte Professorin an der Vanderbilt University in den Vereinigten Staaten, hat nun – anlässlich des 250. Geburtstag der Schriftstellerin und Salonière – die faszinierende Korrespondenz Varnhagens mit Jugendfreundinnen in einem monumentalen Werk herausgegeben.

Faszinierende Klugheit und Beobachtungsgabe

Die Briefe Rahel Levin Varnhagens, die am 19. Mai 1771 geboren wurde, selbst sind darin weniger vertreten. Das liege an der Überlieferung, so Hahn. Die Germanistin hebt hervor, dass Varnhagen die an sie adressierten Briefe aufbewahrte: "Erstaunlich ist, dass sie schon so früh gewusst hat, dass dieses Netzwerk von Freundinnen so wichtig ist und dass es überliefert werden soll. Sonst hätte sie ja die Briefe gar nicht alle aufgehoben."
Die Adressatinnen ihrer Briefe hätten dieses Bewusstsein offenbar nicht gehabt. Die Inhalte von Varnhagens Briefen lassen sich aber in dem Hin und Her erschließen: "Man hört in den Antworten der Freundin diese Genauigkeit des Gesprächs. Die sagen ja oft, wie du in deinem Brief geschrieben hast."
Hahn sagt, sie sei fasziniert von der Klugheit, die aus dem Austausch dieses Frauennetzwerks spreche. "In diesen Briefen sind so wunderbare Gedanken versprengt, die haben wir bis heute noch nicht richtig weitergedacht." Jedes Mal, wenn sie daran arbeite, stoße sie auf Gedanken, die ihr vorher gar nicht aufgefallen seien, obwohl sie den Brief gewiss schon mal gelesen habe.
Das gelte nicht nur für die Briefe von Rahel Varnhagen, sondern auch für die Antworten, die in dem Band mit den Stimmen der Jugendfreundinnen zu hören seien. "Da ist so viel Genauigkeit, so viel Schärfe, so viel Klugheit in den Beobachtungen der Zeit zu lesen. Das ist doch sehr einzigartig."

Themen von Revolution bis Ehe

Der allererste Brief in dem Buch ist von Brendel Veit, später Dorothea Schlegel: "Die berichtet über Rheinsberg und ist entsetzt über die Armut dieser Stadt und versteht plötzlich, warum die Franzosen eine Revolution gemacht haben", erläutert Hahn. "Die Revolution ist noch gar nicht lange her, und da wird eine politische, eine historische Zäsur mit so einer Genauigkeit beschrieben – das finde ich einfach beeindruckend."
Bei Rahel Varnhagen wiederum seien die Gedanken zur Ehe unglaublich scharfsinnig. "Man merkt, dass sämtliche menschlichen Beziehungen neu gedacht und neu adjustiert werden müssen. Die Gedanken über Freundschaft sind wunderbar, die Gedanken über Liebe – das sind ja auch große Themen, über die Frauen sich damals austauschten."
Mehr als ein halbes Dutzend Ehen gingen auseinander, während die Frauen einander schrieben, schildert Hahn. "Und dann wird das ganze soziale und politische Leben neu arrangiert."

Außergewöhnliche Frauen ihrer Zeit

Forscherin Barbara Hahn betont, dass es sich bei dem Zirkel, mit dem Varnhagen im Austausch stand, um Ausnahmefrauen gehandelt habe. Aus Karoline von Schlabrendorfs Briefen etwa – auch denen an andere Freundinnen – sieht man, mit welchem Sarkasmus sie die ganze Adelsgesellschaft bedacht hat. "Sie war eine Gräfin und fühlte sich diesem Stand auf eine sehr deutliche Weise nicht wirklich zugehörig."
In dem Buch mit mehr als tausend Seiten ist der Briefwechsel mit insgesamt 13 Frauen vertreten, zum Teil mit sehr unterschiedlichen Hintergründen: Jüdinnen, Künstlerinnen, Bürgerliche und Adlige.
Die Jüdinnen gehörten alle zu einer bestimmten Berliner Schicht von Juden, die sich teilweise schon als kleine Kinder gekannt hätten, so Barbara Hahn. Andere habe Varnhagen im Bad kennengelernt: "Die Bäder waren ja damals so sozial gemischte Orte.
Zudem hätten ganz früh auch Künstlerinnen, Sängerinnen und Schauspielerinnen dazugehört. "Das war ja damals eine sozial ausgegrenzte Schicht, gerade auch von Frauen. Und die haben sich mit diesen Jüdinnen sehr früh zusammengetan und sich sehr viel getroffen und sich gegenseitig auch sehr unterstützt."
Bei manchen habe sie auch nicht wirklich herausbekommen, wo sie sich kennengelernt haben, räumt Hahn ein.

Orientierung in einer neuen Zeit

"Dass sich die Freundschaften so intensiv entwickelt haben, hat sehr viel zu tun mit der Umbruchzeit, in der die Frauen damals gelebt haben", glaubt Hahn. "Das war einfach fundamental wichtig, dass man sich darüber austauschen konnte, was da gerade geschieht."
Die Jüdinnen seien aus einer traditionellen Welt plötzlich in eine Welt gestellt worden, die ganz anders funktionierte als die, aus der sie kamen. Sehr schnell habe es Züge heftigsten Antisemitismus gegeben: "Da war es einfach wichtig, sich Umfeld zu schaffen, indem man sich über das alles austauschen konnte", glaubt Hahn.
Das Netzwerk habe lange getragen, auch wenn die Korrespondenz manchmal lange unterbrochen gewesen sei und es große Lücken gebe: "Dann plötzlich wird der Briefwechsel wieder aufgenommen und der alte, vertraute Ton ist gleich wieder da."

"Rahel Levin Varnhagen. Briefwechsel mit Jugendfreundinnen"
Hrsg. von Barbara Hahn, unter Mitarbeit von Birgit Bosold und Friederike Wein
Wallstein Verlag, Göttingen 2021
1092 Seiten, 98 Euro

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