Es ist auch gut, wenn man prinzipiell zustimmungsgeneigt ist, unnörglerisch auf die Welt reagiert, die Haltung darf auch ruhig etwas Programmatisches haben, aber es muss gleichzeitig ausreichend Raum für heftige negative Emotionen vorgesehen sein, für Hass, Verachtung, Irrationalismen und Animositäten aller Art.
Rainald Goetz wird 70
Er war und ist mit seinem Schreiben am Puls der Zeit - oder ihm sogar voraus: Rainald Goetz. © picture alliance / dpa / Boris Roessler
Sprachgetrieben und gedankengepeitscht
Rainald Goetz ist einer der faszinierendsten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart. Seine Schriften zeugen von andauernder intellektueller Jugendlichkeit, auch wenn Goetz nun 70 Jahre alt wird. Zwei neue Publikationen beweisen es.
Rainald Goetz war als Autor oft umstritten, aber immer faszinierend. Seine Karriere begann mit dem berüchtigten Schnitt in die Stirn, den er sich 1983 vor laufenden Kameras beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb zufügte. Den Preis gewann er nicht, doch er wurde mit einem Schlag berühmt. Der Erstlingsroman „Irre“ erlebte eine sechsstellige Auflage.
Danach schien es, als habe er im Suhrkamp Verlag Narrenfreiheit. Er legte erratische, oft umfangreiche Buchprojekte vor, die kaum mehr die Aufmerksamkeit des Erstlings auf sich zogen, aber immer etwas Besonderes waren. Goetz war Teil des Betriebs, doch stets als Solitär. Er war und ist mit seinem Schreiben am Puls der Zeit oder ihm voraus.
Raum für Zustimmung - und Verachtung
Streit und Polemik sind zentrale Kategorien im Werk von Goetz, Streit im Universum der Texte aus Literatur, Medien und öffentlichen Diskursen. Nicht nur in seinen Buchpublikationen sucht er die Konfrontation mit der Wirklichkeit, sondern auch in Essays, Reden, Interviews, die in Zeitschriften und Tagespresse erschienen sind. Der Band „wrong“, also „falsch“, versammelt ausgewählte Beispiele. Goetz‘ Denken erweist sich darin als durchaus widersprüchlich, gerade das aber erzeugt zündende Effekte:
Einerseits „zustimmungsgeneigt“, andererseits Raum für Hass und Verachtung – das ist typisch Goetz. Beides wird bei ihm mit äußerster Heftigkeit zelebriert, die Feier dessen, was ihm gefällt, und die Verdammung von Positionen, die ihm falsch erscheinen – „wrong“, wie er seinen Band nennt.
Auch der Goetz‘schen Poetologie selbst sind verschiedene Beiträge darin gewidmet, wie alle seine Schriften sind sie sprachgetrieben, gedankengepeitscht, exzessiv im Zugriff auf die unmittelbare Realität. Bezieht Goetz sich auf sein eigenes Werk, etwa den Roman „Johann Holtrop“, sind seine Ausführungen ungemein hellsichtig.
Allen seinen Texten liegen komplexe Gedankenkonglomerate zugrunde. Auch den Theaterstücken. Die letzten drei sind in dem ebenfalls neuen Band „Lapidarium“ versammelt. Es sind umfangreiche Textflächen, heterogen, vielgestaltig, Prosapassagen, endlos lange Mono- und Dialoge. Das wirkt unspielbar – und ist es doch: „Reich des Todes“ und „Baracke“ wurden in mehreren großen Häusern in Deutschland und Österreich inszeniert.
Gerade das Ausufernde, Manische des Goetz’schen Theaterschreibens scheint für Dramaturgen eine spannende Herausforderung zu sein. „Reich des Todes“ wurde durch die Anschläge des 11. September 2001 und den Folterskandal in Abu Ghraib motiviert - verschaltet mit NS-Anspielungen, wird es zu einem Stück über das Wesen der Folter.
Einer der wichtigsten Autoren der Gegenwart
„Baracke“ ist als Familienstück konzipiert, es zeigt die Entstehung und das Vergehen der Liebe, was besondere Brisanz dadurch gewinnt, dass die NSU-Terroristen Beate Zschäpe und Uwe Mundlos die fiktiven Eltern innerhalb des Stücks sind. Es gehe, so Goetz selbst, um die „beengende Übernähe der Menschen zueinander“.
Die Stücke schaffen durch latente Andeutungen auf verschiedenste Themenkomplexe eine immense Bedeutungstiefe und Bodenlosigkeit banalster Gegenstände. Schwierig, ja kryptisch oft, aber enorm anregend. Fern jeder Festlegung. Goetz ist unleugbar einer der wichtigsten deutschen Gegenwartsautoren, vielleicht sogar der wichtigste.
Rainald Goetz: Wrong. Textaktionen
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024
367 Seiten, 24 Euro
Rainald Goetz: Lapidarium. Stücke
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024
367 Seiten, 32 Euro