Rainer Herrn: „Der Liebe und dem Leid. Das Institut für Sexualwissenschaft 1919-1933“

Als die Queerness laufen lernte

06:33 Minuten
Das Cover des Buches von Rainer Herrn, "Der Liebe und dem Leid. Das Institut für Sexualwissenschaft 1919-1933", Es zeigt neben Autorennamen und Titel eine Graphik mit dem Titel "der sexuelle Treppenreflex".
© Suhrkamp

Rainer Herrn

Der Liebe und dem Leid. Das Institut für Sexualwissenschaft 1919-1933Suhrkamp, Berlin 2022

681 Seiten

36,00 Euro

Von Andrea Roedig · 04.07.2022
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Die Diskussionen um Queerness und Transsexualität sind im Grunde uralt. Rainer Herrn schildert die turbulenten Anfänge der modernen Sexualforschung, die frühen Kämpfe um den Paragrafen 175 und einige sehr obskure Hormontherapien.
 „Nature or nurture“ – ist eine Eigenschaft angeboren oder erworben? Diese Frage ist nicht nur wissenschaftlich interessant, sie war auch lange Zeit hoch politisch, vor allem für die frühe Schwulenbewegung, zu deren Leitfiguren der Magnus Hirschfeld gehört. Der Mediziner gründete 1919 in Berlin ein Institut mit dem Ziel, die junge Disziplin der Sexualforschung als seriöse Wissenschaft zu etablieren, aber auch Reformen des Sexualstrafrechts zu bewirken, etwa des berühmten Paragraphen 175, der „Unzucht zwischen Männern“ unter Strafe stellte.
„Durch Wissenschaft zu Gerechtigkeit“, war Hirschfelds Motto. Seiner Theorie der „Zwischenstufen“ zufolge sind männliche und weibliche Anteile im Menschen immer nur in Mischformen vorhanden; die „anormale“ Verschiebung dieser Anteile bei Homosexuellen, Intersexuellen und Transvestiten sei angeboren, nicht frei beeinflussbar und dürfe daher auch nicht strafrechtlich verfolgt werden.

Pubertätsdrüsen und „Umstimmungsoperationen“

In seiner klugen, gut lesbaren Institutsgeschichte beschreibt Rainer Herrn die Widersprüche, in die sich Hirschfeld mit seinem biologistischen Ansatz verstrickte, führt die Leser:innen aber auch in die Geschichte der frühen Sexualforschung mit all ihren gesellschaftspolitischen Debatten und zuweilen schauerlichen Humanexperimenten. Man wusste noch nicht viel über Geschlechtshormone, experimentierte jedoch der Transplantation von Testikeln – damals „Pubertätsdrüsen“ genannt. Der Wiener Endokrinologe Eugen Steinach etwa ließ Hodenscheiben unter die Bauchdecke verpflanzen und pries dies als Verjüngungskur an; „Umstimmungsoperationen“ sollten vom homosexuellen Begehren befreien, ebenfalls beschrieben sind im Buch erste Versuche operativer Geschlechtsangleichungen.
Das Institut für Sexualwissenschaft war ein breites Sammelbecken verschiedenster Forschungsrichtungen, bot aber auch Ehe- und Sexualberatung an, Vorträge und Frageabende für eine breite Öffentlichkeit. Weltberühmt und berüchtigt war das Museum mit seiner unzensierten Fülle an Exponaten – von der Fetischsammlung bis zur Selbstbefriedigungsapparatur. Die Mitarbeiter des Instituts fungierten als forensische Gutachter, stellten sogenannte „Transvestitenscheine“ aus und beteiligten sich an der Entwicklung von Potenzmitteln – „Testifortan“ und „Titus-Perlen“ waren wichtige Einnahmequellen des Instituts.

Da die Universitäten sich damals gesträubt hätten, das Fach Sexualwissenschaft zu etablieren, habe Hirschfeld sein Institut als privat finanzierte Einrichtung gegründet, erklärt Rainer Herrn . Er ist Medizinhistoriker an der Charité und arbeitet zudem an der Forschungsstelle zur Geschichte der Sexualwissenschaft der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft. Hirschfeld habe es 14 Jahre lang geschafft, das Institut mit allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am Laufen zu halten, bis die Nationalsozialisten es 1933 zerstörten.

Die Recherche seines Buchs sei anspruchsvoll gewesen, so Herrn. Da Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft zerstört worden sei, habe man alles neu sammeln und zusammentragen müssen: veröffentlichte und unveröffentlichte Quellen in Archiven, Privatarchiven oder von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, auch in Form von Oral History. „Wir haben die letzte lebende Mitarbeiterin von Magnus Hirschfeld in den Jahren 2003 und 2004 interviewt, die uns viele wertvolle Hinweise gegeben hat.“ Er habe 30 Jahre gebraucht, um dieses Buch zu schreiben, so Herrn.

Nach 1933 gehe die Sexualwissenschaft von Deutschland in die USA. Harry Benjamin, ein Mitarbeiter Hirschfelds, führe dort das Konzept der Transsexualität ein. In den 1960er-Jahren komme die Sexualwissenschaft aus den USA wieder zurück nach Deutschland. Der auch hierzulande sehr bekannte US-Sexualforscher Alfred Kinsey habe Elemente von Hirschfelds Forschung für seine eigene Forschung verwandt, so Rainer Herrn.

Das Ende der Freiheit

An „Der Liebe und dem Leid“ beeindruckt Rainer Herrns große Expertise, unaufgeregt sachlich beschreibt er das komplexe Geflecht der Gegenspieler, zeigt die Grenzen von Hirschfelds zum Schluss überholter Position auf und bleibt ihm gegenüber doch einfühlsam. Nur 14 Jahre bestand das Institut. Angriffe, auch antisemitischer Art, hatte es schon zuvor gegeben. Am 6. Mai 1933 plünderten Nationalsozialisten das Gebäude, die Bestände der Bibliothek landeten mit der Büste des „Juden Hirschfeld“ im Feuer der Bücherverbrennungen. Magnus Hirschfeld selbst war nach einer Reihe von Auslandsvorträgen nicht mehr nach Deutschland zurückgekehrt, er starb 1935 im Exil in Nizza.
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