Ralf Konersmann: "Welt ohne Maß"
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021
310 Seiten, 26 Euro
Die Moderne kennt kein Maßhalten
05:59 Minuten
Der Kulturphilosoph Ralf Konersmann betrachtet in seiner Genealogie des Maßes, wie die Tugend der Mäßigung ihr Ansehen verlor und die Statistik unanfechtbar wurde. Eine brillante Rekonstruktion mit immenser Materialfülle.
Genug ist nicht genug, sang nicht nur Konstantin Wecker, das seufzte auch Conrad Ferdinand Meyer mehr als hundert Jahre zuvor. Ebenso wie der meyersche Seufzer bedeutet Weckers revolutionärer Ruf eine Wegmarke in der Entwicklung unserer Vorstellung von Maß und Angemessenheit. Das, was bisher genügt hatte, reichte nicht mehr aus, nicht 1860, nicht 1977 und später noch weniger. Der Lebenshunger war größer, die Gier, die Neugier, der Zwang zur Effizienz.
Der Kulturphilosoph Ralf Konersmann blickt in seinem neuen Buch "Welt ohne Maß" vom Olymp der antiken Philosophie auf eine Gegenwart, die der Zahl anstelle des Maßes huldigt, die der Vermessung verfallen ist, statt sich am Angemessenen zu orientieren.
Maß von der Antike zu Hegel
Schon in seinem Buch "Die Unruhe der Welt" von 2015 übte sich Konersmann in Zeitdiagnostik – und seinen Befund von damals – dass das einstige Ideal der Ruhe von der Allgegenwart der Unruhe mit entsprechenden Folgen abgelöst sei – bestätigt er nun noch einmal, jedoch mit einem anderen Schwerpunkt.
Hier geht es nun um das Maß, das laut Horaz "in allen Dingen" liegt, als Voraussetzung für ethisches wie technisches Denken und Handeln, und um Mäßigung als "Metatugend", die jede andere Tugend steuert, antreibt oder auch bremst.
Ausgehend insbesondere von den Stoikern, stellt Konersmann das Maß als eine Art Graue Eminenz der Philosophie und der Lebenspraxis vor, als selbstverständliche Übereinkunft, die "unabhängig von der Frage der Gründe, unabhängig von förmlicher Anerkennung und weltanschaulicher Rechtfertigung" galt.
Mit Beginn der Neuzeit, mit der wachsenden wissenschaftlichen Neugier, mit den Erkenntnissen der Astronomie zumal, gerät die Balance zwischen Maß und Messen, zwischen Ethik und Technik langsam in Gefahr.
Und mit der Französischen Revolution und ihrem Terror, die Konersmann als Triumph der Maßlosigkeit beschreibt, muss "Maß" neu gedacht werden: Was Hegel Anfang des 19. Jahrhunderts tat, indem er das Maßlose als Begriff einführte, als Übergang des untauglich gewordenen Maßes zu einem neuen, gültigen Maß des Fortschritts.
Das Maß mutiert zur Statistik
Schritt für Schritt, mit den großen Namen der Philosophie, der Literatur, der Kunst an seiner Seite, folgt Konersmann den Veränderungen und Wortverwandtschaften des Maßbegriffs durch die Zeit, und erläutert, wie das Maß zur Messgröße mutiert, wie die Beziehung zwischen Qualität und Quantität, zwischen Ethik und Technik mit der Aufgabe eines allgemeingültigen Maßes zerbricht.
Die Meisterin der Tugend mutiert zur Statistik, der messende, maßnehmende Mensch, der homo faber, zum vermessenen Menschen der Gegenwart, im doppelten Wortsinn. Und die Zahlen erhalten eine Gültigkeit, die so wenig angezweifelt wird wie das einstige "Maß in allen Dingen".
Das Maß verschwindet aus den abendländischen Selbsterzählungen und taucht nur noch larviert auf, etwa wenn von 'Vernunft', 'Übertreibung' oder 'der Mitte' die Rede ist.
Brillante Rekonstruktion des Verlorenen
Konersmanns brillante Rekonstruktion bietet eine immense Materialfülle – sogar die Fußnoten sind überaus lesenswert. Sie ist auch Ergebnis eines großen Unbehagens am Zustand unserer von Algorithmen bestimmten Gegenwart. Sie ist überzeugend.
Allerdings: Wenn hier von Welt die Rede ist, ist das Abendland gemeint – eine sicher nicht beabsichtigte, aber sehr übliche intellektuelle Kolonialisierung. Und überhaupt: Kolonialismus als systematische Maßlosigkeit im 19. Jahrhundert und bis in die Gegenwart – darüber hätte ich dann doch gerne mehr gelesen als zwei halbe Sätze.