Ralf Rothmann: Im Frühling sterben
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015
234 Seiten, 19.95 EUR
Moralische Verelendung der Soldaten
Unschuldig schuldig werden: Ralf Rothmann erzählt in seinem Roman "Im Frühling sterben" eine Tragödie aus den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs. Er wirft einen differenzierten Blick auf eine Generation traumatisierter Männer.
Ralf Rothmann zählt bereits jetzt zu den Klassikern der deutschen Gegenwartsliteratur. In seinen vom Publikum wie von der Kritik umjubelten Romanen stellt er eine einzigartige Verbindung zwischen poetischer Anschaulichkeit und Kleineleutemilieu, zwischen träumerischer Sensibilität und krudem Sozialrealismus her. "Milch und Kohle", "Flieh, mein Freund" oder "Junges Licht" sind kanonisierte Romane, in denen die Biografie des Autors durchschimmert. Rothmann, Sohn eines Bergbauarbeiters aus dem Ruhrpott schaffte den für deutsche Verhältnisse seltenen Aufstieg zum renommierten Schriftsteller.
Die Figur des verstummten, an den Folgen der Untertagearbeit und des Alkoholkonsums früh verstorbenen Vaters taucht in Rothmanns Werk immer wieder auf. Dass er sich in seinem neuen Roman "Im Frühling sterben" dem Kriegstrauma einer Figur der Vatergeneration, vielleicht sogar dem Trauma des eigenen Vaters zuwendet, erscheint geradezu konsequent. Der Roman erzählt eine Tragödie aus den letzten Monaten und Wochen des Zweiten Weltkriegs. Über seine literarische Meisterschaft hinaus liefert er einen bedeutenden Beitrag zur moralischen Frage nach Schuld und Unschuld.
Ein Freundespaar, die beiden siebzehnjährigen Melker Walter Urban und Fiete Caroli stehen im Zentrum der Geschichte. Fast noch Jugendliche, ohne jede militärische Erfahrung werden sie im Februar 1945 zur Waffen-SS zwangsrekrutiert. Es dürfte kein Zufall sein, dass sie in jene SS-Division Frundsberg aufgenommen werden, der auch Günther Grass, ebenfalls als Siebzehnjähriger angehörte, dem sein spätes Eingeständnis dieser Mitgliedschaft den Vorwurf moralischer Unglaubwürdigkeit eintrug.
Verweigert er sich dem Befehl, wird er exekutiert
Walter wird Fahrer hinter den Kriegslinien Ungarns, Fiete hingegen kommt an die Front und wird schwer verletzt. Bei einem Fluchtversuch wird er gefasst und als Deserteur standrechtlich zum Tod verurteilt. Niemand anderes als seine Stubenkameraden, unter ihnen auch Walter, werden zu Fietes Exekution gezwungen. Für Walter ein unlösbarer Konflikt: Verweigert er sich dem Befehl, würde er ebenfalls exekutiert, gefährdete unter Umständen auch das Leben anderer Kameraden. So gibt der Siebzehnjährige im Frühjahr 1945 einen einzigen Schuss ab - auf seinen besten Freund.
Selten wurden Barbarei und Grausamkeit des Krieges so radikal und bezwingend dargestellt wie in diesem Roman. Selten nutzte die Literatur ihre Mittel auf so meisterliche Weise, um die moralisch-psychische Verelendung von Soldaten zu durchdringen. Atemberaubend ist hier nicht nur Ralf Rothmanns poetische Brillanz, sondern auch die humane Empathie, die er für Walters Tragödie aufbringt: Die Tragödie des unschuldig Schuldigseins, über die Walter in der Nachkriegszeit nie und mit niemand sprechen wird. Sein Sohn, der sich schon nach wenigen Romanseiten aus der Position des Ich-Erzählers zurückzieht, leiht ihm seine Stimme und erzählt an Stelle des Vaters von dessen Kriegstrauma.
So markiert Rothmanns Roman auch eine Zäsur in der Geschichte der Sohnesliteratur: Die Zeit der ödipalen Abrechnung und Aburteilung ist vorbei. Die Zeit der differenzierten Anteilnahme hat begonnen. Dies ist ein großer Gewinn an Erkenntnistiefe.