Rallye in die Freiheit
10. September 1989: Ungarn öffnet seine Grenzen zu Österreich. Damit können Tausende von DDR-Bürgern in Richtung Bundesrepublik aufbrechen. Als Erster passiert Gerhard Meyer den Schlagbaum.
Vorspann
"Guten Abend, meine Damen und Herren, zur Sondersendung des Aktuellen Dienstes. Die ungarische Regierung hat heute beschlossen, dass ab Mitternacht, also in etwas weniger als zwei Stunden, die DDR-Flüchtlinge ausreisen dürfen. Um 24 Uhr gehen die Balken hoch."
Frau: "Sie dürfen das Land verlassen."
10. September 1989. Knapp zwei Stunden nach der Sondersendung des österreichischen Rundfunks startet der Ostberliner Wirt Gerhard Meyer mit seinem Auto von der Pole-Position. Dann, 1999, zehn Jahre später, fährt er die Drei-Länder-Route noch einmal ab.
"So, dann werden wir mal den fünften Gang nehmen, mit dem bin ich damals auch gefahren. Ich habe auf der ganzen Fahrt durch Österreich nicht einen einzigen Polizisten gesehen oder ein Polizistenauto, nur immer die netten lieben Helfer, am Straßenrand, an großen Kreuzungen, die uns dann die Schilder gezeigt haben Richtung Deutschland."
Und heute? 2009? Meyers Spur führt nicht mehr nach Deutschland.
Abschied
"Ach so, die Klapperkiste wollte ich ausmachen."
Meyer verlässt den Speisesaal, um das Radio auszuschalten. Er verschwindet im Foyer des "Hotel Post”. Hier ist er also gelandet. In Steinach, in Österreich. Er, der Schnelle Meyer. Rast damals mit 160 quer durch Österreich. Gerhard Meyer, der Ostdeutsche. "Damals" ist in der Nacht vom 10. zum 11. September 1989.
Meyer gewinnt das Wettrennen in die Freiheit, kommt als Erster in Passau an, in der Bundesrepublik. Er fährt damals einen Westwagen, keinen Trabi oder Wartburg.
"Das konnte man alles vorher nicht ahnen."
Sagt Meyer heute über seine Fahrt vor 20 Jahren und das Danach. Flüchtig schaut er aus dem Hotelfenster. Tiroler Bergpanorama statt Berliner Hochhäuser.
"Also ich bin das letzte Mal vor ... 2004 war ich das letzte mal in Berlin."
Meyer greift zum Wasserglas. 2004 ist er schon vier Jahre aus Berlin und seinem fünften Restaurant weg. Dann folgt sein sechstes Restaurant. Diesmal in seiner Heimat, in Sachsen-Anhalt. Er rackert, investiert, aber ... Also wieder zu und weg.
"Und dann sind wir gleich nach Österreich. Nach Hopfgarten Tscherndann, der Berggasthof Tscherndann, den habe ich dann zwei Jahre gemacht, als Pächter. Aber das Risiko war zu groß; haben abgeschätzt, dass es nicht funktioniert."
2004 endet für Meyer die Rallye in die Freiheit. In Österreich. 15 Jahre nach der Nacht-Rallye.
Meyer schüttelt den Kopf – von wegen schwerer Abschied von seinem Traumland Bundesrepublik.
"Ganz leicht."
"Ja?"
"Ganz leicht, ganz leicht. Man muss dazu sagen, ich bin immer schon ein gastronomischer Zigeuner gewesen. Für mich war die Heimat, wo ich gearbeitet habe. Bin immer da hingezogen, wo die Arbeit war."
Sagt's und zeigt auf den nagelneuen Fußbodenbelag im Speisesaal, eigenhändig verlegt.
"Ist ein Abschied für immer! Also von Deutschland ist ein Abschied für immer."
Gerhard Meyer. Mittelgroß, flinke Augen, graue Haare, grauer Schnauzer. Weißes Hemd, weiße Hose. 1999, in Berlin, bei der ersten Begegnung, trägt er eine bayerische Tracht. Meyer grinst.
"Doch, die habe ich noch. Also das ist alles noch da. Aber das bajuwarische werde ich mehr oder weniger nur noch als Folklore anlegen. Ich werde mir natürlich die Tiroler Tracht einkaufen, damit du dem Land verbunden bist."
Steinach liegt im Wipptal, Tirol liegt in Österreich, und Meyer lebt nun im "Hotel Post". Der ehemalige Besitzer von sechs Restaurants ist jetzt "Angestellter" bei seiner Tochter. Sagt aber immer noch "mein Hotel". Aus Gewohnheit und Stolz, und wegen des Geldes und der Arbeit, die von ihm da drinsteckt. Meyers Hand fährt durch Luft.
"Die Renovierung, die ganze Ausdekorierung - ist alles meins. Und das Allerlustigste ist, ich habe sogar noch was von Berlin da. Den Garderobenständer, den habe ich mal für den Ratskeller gekauft. Den fand ich so toll als Eisengestell, den hebe ich mir auf. Zwei Stück habe ich davon."
Seit drei Wochen ist die Tochter im Grundbuch als Besitzerin eingetragen, schiebt Meyer nach ... und dann eine Geschichte nach der anderen. Auch die von seinem Auftritt im Bayerischen Fernsehen. Ein Rateteam soll unter drei Kandidaten den echten Schnellen Meyer herausfinden. Meyer grinst wieder. Auf ihn tippte nur einer, ein falscher Meyer gewinnt.
"Auf den haben sie alle getippt. Der hat sehr stark gesächselt. Und da haben die gedacht, Osten ist alles Sachsen. Und wahrscheinlich haben sie deshalb so gemünzt. Ja, ja."
Terrasse
Meyer ist kurz ab in die Küche, holt Kaffee. Vor der Hotelterrasse hält der Gendarm einen Touristen aus Dänemark an. Ortsdurchfahrt mit Wohnwagen ist nicht gestattet.
In der Cafeteria gegenüber trinkt der vormalige Hotelbesitzer einen Kaffee. Seinem redlichen Bemühen um das Hotel folgt schnell der Verkauf des alten Familienbesitzes der Cammerlanders. Nun also im Familienbesitz der Meyers.
Laut Prospekt ist das Hotel "zweifellos das älteste Postamt Tirols". Früher "Anlaufstation der Postkutschen", heute Haltestation der Bustouristen - auf der Durchfahrt nach Süden. Und retour.
Steinach am Brenner, das Wipptal in Tirol, Meyer im "Hotel Post". Auf dem Hotel-Video im Internet läuft der Schnelle Meyer nach 1.15 sehr gemächlich durchs Bild. In einer Tracht. Die Hände in der Lederhosentasche. Er, der unruhige 59-Jährige, der immer was machen muss.
Suche
Meyer, der Schnelle Meyer, hockt in der Bar auf einer Sitzbank, spult und stoppt, spult weiter und stoppt wieder. Seine Tochter schaut zu.
Meyer: "Was?"
Tochter: "Was suchst du denn da?"
Meyer: "Da ist so ein Beitrag von einer Telefonreportage ist da."
Tochter: "So schön war er auch nicht."
Meyer: "Was?"
Tochter: "So schön war er auch nicht."
Meyer: "Ich will ihn ja auch bloß mal hören lassen. Aber das ist keen gutes ..."
Radio Tirol. 2005. Da ist Meyer ein Jahr hier. Und der Schnelle Meyer hilft etwas nach, dass es sich schnell herum spricht. Klappern gehört zum Handwerk, sagt er so nebenbei. Und lässt nicht locker, sucht weiter nach dem Interview-Mitschnitt.
Moderator: "... zwischen Rügen und dem Harzgebirge so ungefähr, so ganz ist das natürlich auch nicht ..."
Tochter: "Papa, nun lass es doch einfach! Du findest es doch eh nicht."
Meyer: "Doch, ich finde das."
Tochter: "Du hättest das vorher machen müssen. Das nervt."
Meyer: "Ich hab' das doch schon mal gemacht, aber dann war es weg."
Moderator: "... stellen wir ihnen gleich vor."
Tochter: "Kann einen Bus reparieren, aber so ein Ding nicht bedienen."
Moderator: "12 Uhr und 46 Minuten."
Meyer: "Das muss gleich weiterlaufen, das ist die Sendung."
Moderator: "... seit 15 Jahren jetzt wieder bei der BRD sind."
Irgendwann findet Meyer dann die Radio-Tirol-Interview-Stelle auf der CD. Die ist knapp 1.30 lang. Und den Moderator interessiert nur, was sich ein Tiroler unbedingt in Neu-Ostdeutschland anschauen soll.
Meyer zuckt mit den Schultern, schiebt die nächste CD ein.
Meyer "Na, Play."
Moderator: "Von der schnellen Götzschl geht es jetzt zum Schnellen Meyer. Erinnern Sie sich noch an die Bilder ..."
Meyer: "Auch 2005 war das."
Moderator: " ... 1989 die Grenze zu Ungarn aufgegangen ist und der Eiserne Vorhang zu fallen begann? Erinnern Sie sich noch an die Gesichter der Ostdeutschen, die jubelnd in die neue Freiheit gefahren sind?"
Fahrt der Erinnerung
Meyer kann diese Nacht nicht vergessen. Sie hat sein Leben verändert - die Nacht vom 10. zum 11. September 1989. Hunderte DDR-Bürger brechen von der ungarisch-österreichischen Grenze zur österreichisch-bundesdeutschen Grenze auf.
In der Poleposition – Meyer, der eine Vorliebe für schnelle Autos hat, spontan die Urlaubsroute ändert und damit die Biografie seiner Familie. 1989.
1999 fährt er noch einmal die Strecke der Rallye in die Freiheit ab. Diesmal ohne Fluchtauto, dafür im Mietwagen; ohne Blitzlichtgewitter, aber mit vielen Bildern vor Augen.
1999 also. Anfahrt zum ungarischen Grenzpunkt. Die letzten 20 Kilometer bis zur ungarisch-österreichischen Grenze, spricht Meyer nur noch von Ungarn und davon, was wird an der Grenze sein? Am Startpunkt der 89er DDR-Bürgerwettfahrt in die Bundesrepublik.
Grenzankunft
"Alles, alles, was zehn Jahre geruht hat, das knallt wie eine Explosion wieder hervor. Das Haus, die Zollstation – das klingelt wieder in den Ohren, obwohl wie es nur bei Nacht gesehen haben. Es war ja alles sehr hell erleuchtet gewesen hier. Ja, von hier aus ging es dann Richtung Deutschland."
Meyer zeigt Richtung Westen. Und Gefühle. Grenzübergang Sopron-Klingenbach. Für eine Nacht geht der Grenzbalken hoch. 1989. Ungarn-Österreich.
"Man kann den Leuten alle gar nicht genug danken. Wenn man das so alles sieht, was die damals so alles auf sich genommen haben, was die uns geholfen haben. Stellvertretend für alle hier müsste man einen richtigen Dankesschrei auswerfen. Aber na ja, ich glaube, das ist der Redakteur."
Ein Reporter vom ORF hat von der Tour der Erinnerung erfahren, möchte ein Interview. Für das Fernsehen. Meyer hat die Bilder im Kopf. Doch 1999 ist nicht 1989.
ORF: "Aber hier werden jetzt sehr viele Personen wieder zurück gewiesen. Die dürfen nicht einreisen."
Meyer: "Tja, das Nichteinreisen kann ich nicht beurteilen. Nur meine Überlegung ist dazu: Wenn es politisch Verfolgte sind, warum nicht, denen sollte man auf jeden Fall Asyl gewähren. Aber es kann dann natürlich nicht sein, dass die nach Deutschland kommen oder nach Österreich kommen oder weiß der Kuckuck wohin und wollen praktisch zum Beispiel nur aus niederen Instinkten das Land ausbeuten. Man liest ja heutzutage fast jeden Tag in der Zeitung: Der eine hat 200.000, der andere hat 50.000, der andere 300.000 Mark hat er das Sozialamt betrogen. Das darf nicht sein so etwas. Wir arbeiten ja dafür."
ORF: "Sie sind ja auch aus wirtschaftlichen Gründen unter anderem geflüchtet. Den anderen Leuten wollen Sie das nicht zubilligen?"
Ruhe vor dem Start
Meyer schläft. Den Autositz zurück geklappt, den Hut übers Gesicht geschoben. Letzte Ruhe vor dem Start. Jetzt, 1999. Vor zehn Jahren um diese Zeit - Aufregung, Anspannung, Freude. Bereit zur Ausreise, endlich.
Um 24 Uhr soll es losgehen, wie damals. Rund 400 Kilometer - die Entfernung ist so ziemlich das einzige, was sich nicht verändert über die Jahre.
Nachtfahrt
Endlich Mitternacht. Augen auf und Scheinwerfer an. Der Grenzübergang an der ungarisch-österreichischen Grenze.
"Und jetzt fahren wir."
Reporter: "Und lassen Ungarn hinter uns. Die Reise in die Erinnerung beginnt."
"Die Reise in die Erinnerung beginnt. Und jetzt fahren wir auf die Straße der sogenannten Freiheit. Wir haben Rot - wieso das?"
1999 ist nicht 1989. Eine österreichische Grenzbeamtin will den Kofferraum kontrollieren, Meyer muss aussteigen. Sein Hinweis auf die Erinnerungsfahrt und die Ankunft als Erster hilft nicht, er muss raus. Schengen-Abkommen, Außengrenze, keine freie Durchfahrt.
"Da merkste, dass ich Automatik fahre.”"
Der weiße Toyota, Kennzeichen ID 94-27, der Siegerwagen, verschwindet 1992 in der Schrottpresse.
" "Weil, er hatte nach zwei Jahren Deutschland einig nicht mehr die Erfordernisse erfüllt, die er hätte bringen müssen."
Ein historisches Stück auf dem Müllhaufen der Geschichte. Meyer zuckt mit den Schultern.
"Du sag mal, ich glaube, wir sind auf der verkehrten Straße durch diese Umleitung. Ich sehe kein Schild, wo es in Richtung Wiener Neustadt geht."
Verfahren. Wie damals in der Nacht vom 10. zum 11. September 1989.
"Sankt Pölten! Da sind wir schon auf der richtigen Straße, da können wir hier weiterfahren. Und von Sankt Pölten geht es dann ab in Richtung Linz."
Die Anspannung weicht wieder aus Meyer. Wie auf einem Wochenendtrip, wird Meyer später sagen.
Jetzt konzentriert er sich auf das Gespräch, ein offiziöser Tonfall schleicht sich ein.
"Wenn man so zurückdenkt, vor zehn Jahren ist man doch mit verklärten Blicken an die ganze Realität heran gegangen. Es war alles rosarot. Es war alles phantastisch. Heute die Realität sieht ganz anders aus. Politik ist einfach nur ein Kampf ums Geld."
Meyer drückt die Arme durch und ist trotzdem zufrieden mit der Wirklichkeit. Die Tachonadel pendelt sich bei 120 ein. Nun wird er mehrfach überholt. Diesmal also kein Rennen in die Freiheit wie vor zehn Jahren.
"Es ist mehr ein Abfahren einer Gedächtnisstrecke, die im Gedächtnis festgeschrieben ist. Und denn kommt die Erinnerung - das war der Weg."
Der Weg nach Deutschland. 1989 ist das für Meyer Westdeutschland. Und wofür steht Westdeutschland?
"Ja damals, muss ich dazu sagen, auch verklärt, für Freiheit, Reisemöglichkeiten, heute ist es die Normalität."
Die Normalität ist wie für Meyer geschaffen, er hat die nötige Portion Schlitzohrigkeit.
"Jetzt sind wir in Richtung Linz. Jetzt sehen wir schon die Silhouette von Haas in Linz. Wenn ich heute darüber nachdenke, Linz ist für mich heute eine Stadt in Österreich, aber damals war Linz eine Stadt, die näher an Deutschland dran lag."
Auch jetzt bleibt Linz ein Lichtschimmer, der schnell wieder verschwindet. Die Scheinwerfer fressen sich in das Dunkel der Nacht. Mit den Kilometern wechseln die Stichworte. Manche Geschichten wiederholen sich. Und manche Sprüche, die sich Meyer in den Jahren zurechtlegt – zwischen Bayern und Berlin.
"Tja, als ich von Ungarn nach Deutschland gekommen bin, da hatte ich vier Koffer dreckiger Wäsche und ein fünf Jahre altes Auto. Und als ich von Haßfurt-Sylbach nach Berlin übergesiedelt bin, da hatte ich fünf Koffer dreckige Wäsche und ein sechs Jahre altes Auto. Das war mein Start."
Meyer wird unruhig. Der Kilometerzähler hat die 400 Kilometer der Erinnerung bald runtergespult.
"Auf einmal waren da 30 Reporter! Der eine hopste auf das Auto. Jeder versuchte, Aufnahmen zu machen. Jeder wollte ein Interview haben. Ich wollte aber aussteigen. Ich konnte gar nicht aussteigen. Aber dann habe ich das so richtig bewusst erlebt, dass ich sagte: Man, ist das geil! Das war für mich denn so richtig wie Art Action war das gewesen."
Ohne Ausreiseantrag. Bin Geschäftsmann, kein Märtyrer, sagt Meyer. Ist nicht sein Ding.
"Heute haben ... Passau! Geradeaus! Siehste, jetzt geht's schon auf Passau geht's jetzt. Und jetzt geht's rechts nach Passau ab. Phantastisch. Irgendwie kriege ich da noch ein richtiges Kribbeln im Bauch. Das kann ein Außenstehender gar nicht nachvollziehen."
Meyer holt tief Luft, ruckelt im Sitz umher – wie um sich für den Zieleinlauf noch mal richtig in Position zu bringen.
"Ja, ich könnte mir gar nicht vorstellen, dass auf einmal 60 Reporter und Fernsehteams für mich, sich für mich interessieren. Für Meyer aus Ostdeutschland. Nur weil ich der Erste bin, der angekommen ist."
Die Bilder mit dem schnellen Meyer gehen um die Welt. Meyer, Sieger der Ungarn Open 89. Erster der Wettfahrt in die Freiheit in der Nacht vom 10. zum 11. September 1989. Als Ungarn für Tausende DDR-Bürger die Grenze in den Westen öffnet.
"Mensch, wir sind ja schon an der Grenze. Ist ja nur noch een Kilometer. Fantastisch. Ist alles ganz anders. Ruhig, keen Trubel wie damals. Keiner interessiert sich für uns."
Nicht mal ein Grenzbeamter lässt sich blicken. Von Reportern ganz zu schweigen.
"Wir brauchen nicht mehr anzuhalten, weil es keine Grenze mehr gibt. Oder doch?"
"Jetzt halten wir mal an und machen ein Foto, nich."
Grenzübergang Passau-Suben ein paar Stunden später. Bei Tageslicht. Gerhard Meyer will noch ein Erinnerungsfoto schießen - zehn Jahre nach seiner Ankunft im Westen.
"Damit Du die Fahne siehst und den Bundesadler."
Rechterhand schwarz-rot-goldene Fahne, in der Mitte Meyer, linkerhand Bundesadler ... und WC-Schild.
"Ist nicht gerade ne schöne Kulisse mit dem ollen Scheiß. Aber trotzdem, so sieht es halt heute aus."
Triste Betonkulisse. Eine Durchfahrtstation, die man schnell hinter sich lassen möchte. 1989, vor zehn Jahren, die Ziellinie für Meyer, den Sieger der Drei-Länder-Rallye.
"Ich gloobe, das interessiert nur noch ... nich mal einen Besoffenen mehr. Kein Mensch kann das nachvollziehen, was das für Schicksalsschläge gewesen sind für irgendwelche Leute, die alles aufgegeben haben. Heute normal. Ach, das war ja die damals von Drüben gewesen! Ja, die haben's ja nun ooch geschafft. Haben alle uff unsre Kosten gelebt. Das ist der Slang, den 'se heute wahrscheinlich am Stammtisch erzählen."
Das Foto
Die Fahrt der Erinnerung 1999 liegt nun auch schon wieder zehn Jahre zurück. 2009 bohrt sich Meyer im Blaumann in seine österreichische Zukunft, rackert und macht nun in "seinem" Hotel Post in Steinach am Brenner.
"Vorsicht, Staub. Das wird sozusagen die neue Dusch- und Nasszelle für das andere Zimmer. Abgedichtet habe ich es drüben, kannst mal schauen, wie ich das mache. Das wird Dusche und WC."
Einige Zimmer geben noch "Rüdesheimer Barock", dunkle Eiche. Meyer will da Tiroler Fichte einbauen, die Räume heller machen. Das wird, jetzt ist Pause angesagt für Erinnerungsfotos.
"Ph, ja, da müssten noch welche da sein. Aber in welchem Album die drin sind?"
Die Fotos von der Tour der Erinnerung 1999. Meyer schaut einen Moment etwas ratlos drein, dann sprudelt es aus ihm heraus.
"Da sind wir doch, wo wir in Passau waren, da waren wir doch die Einzigen an der Grenze. Nee, das endet hier."
Das Album - mit den Fotos vom Blitzlichtgewitter 1989. Und die Geschichte.
"Tja, das ist halt die Geschichte."
Von seinem "Wohnwechsel" 1989.
"Also ich muss immer dazu sagen, ich bin nie geflüchtet. Ich habe in der DDR nichts auszuhalten gehabt. Ich habe mein Einkommen gehabt, ich habe eine eigene Gastwirtschaft privat gehabt, ich habe einfach nur meinen Wohnwechsel gemacht. Und ich bin da, ich bin kein politischer Flüchtling. Den Gefallen wollte ich den Idioten sowieso nicht tun, da drei Jahre durch den Knast zu wandern, dass mich dann irgendeiner dann Freikaufen tut für solchen Scheiß. Und das war mir auch nicht das richtige."
Meyers Geschichte. Die vom Schnellen Meyer.
"Tja, so schnell schließt sich die Geschichte."
Weg von Deutschland.
"Ich werde auch nicht zurückfahren. Zu Besuch ja, aber alles in allem fühle mich jetzt hier sauwohl in Österreich."
Die Rallye in die Freiheit führt 1999 Meyer in die Bundesrepublik und endet 2004 in der anderen Bundesrepublik – in Österreich.
"Ja, Ironie des Schicksals, kann man dazu nur sagen."
Ach so, die aus seinem Zimmer im ungarischen Lager in Zanka sollen sich doch mal bitte bei ihm melden. Seine Adresse ist ja nun bekannt: Hotel Post, Steinach, Tirol, Österreich. Da, wo er schon wieder durchstartet.
"Guten Abend, meine Damen und Herren, zur Sondersendung des Aktuellen Dienstes. Die ungarische Regierung hat heute beschlossen, dass ab Mitternacht, also in etwas weniger als zwei Stunden, die DDR-Flüchtlinge ausreisen dürfen. Um 24 Uhr gehen die Balken hoch."
Frau: "Sie dürfen das Land verlassen."
10. September 1989. Knapp zwei Stunden nach der Sondersendung des österreichischen Rundfunks startet der Ostberliner Wirt Gerhard Meyer mit seinem Auto von der Pole-Position. Dann, 1999, zehn Jahre später, fährt er die Drei-Länder-Route noch einmal ab.
"So, dann werden wir mal den fünften Gang nehmen, mit dem bin ich damals auch gefahren. Ich habe auf der ganzen Fahrt durch Österreich nicht einen einzigen Polizisten gesehen oder ein Polizistenauto, nur immer die netten lieben Helfer, am Straßenrand, an großen Kreuzungen, die uns dann die Schilder gezeigt haben Richtung Deutschland."
Und heute? 2009? Meyers Spur führt nicht mehr nach Deutschland.
Abschied
"Ach so, die Klapperkiste wollte ich ausmachen."
Meyer verlässt den Speisesaal, um das Radio auszuschalten. Er verschwindet im Foyer des "Hotel Post”. Hier ist er also gelandet. In Steinach, in Österreich. Er, der Schnelle Meyer. Rast damals mit 160 quer durch Österreich. Gerhard Meyer, der Ostdeutsche. "Damals" ist in der Nacht vom 10. zum 11. September 1989.
Meyer gewinnt das Wettrennen in die Freiheit, kommt als Erster in Passau an, in der Bundesrepublik. Er fährt damals einen Westwagen, keinen Trabi oder Wartburg.
"Das konnte man alles vorher nicht ahnen."
Sagt Meyer heute über seine Fahrt vor 20 Jahren und das Danach. Flüchtig schaut er aus dem Hotelfenster. Tiroler Bergpanorama statt Berliner Hochhäuser.
"Also ich bin das letzte Mal vor ... 2004 war ich das letzte mal in Berlin."
Meyer greift zum Wasserglas. 2004 ist er schon vier Jahre aus Berlin und seinem fünften Restaurant weg. Dann folgt sein sechstes Restaurant. Diesmal in seiner Heimat, in Sachsen-Anhalt. Er rackert, investiert, aber ... Also wieder zu und weg.
"Und dann sind wir gleich nach Österreich. Nach Hopfgarten Tscherndann, der Berggasthof Tscherndann, den habe ich dann zwei Jahre gemacht, als Pächter. Aber das Risiko war zu groß; haben abgeschätzt, dass es nicht funktioniert."
2004 endet für Meyer die Rallye in die Freiheit. In Österreich. 15 Jahre nach der Nacht-Rallye.
Meyer schüttelt den Kopf – von wegen schwerer Abschied von seinem Traumland Bundesrepublik.
"Ganz leicht."
"Ja?"
"Ganz leicht, ganz leicht. Man muss dazu sagen, ich bin immer schon ein gastronomischer Zigeuner gewesen. Für mich war die Heimat, wo ich gearbeitet habe. Bin immer da hingezogen, wo die Arbeit war."
Sagt's und zeigt auf den nagelneuen Fußbodenbelag im Speisesaal, eigenhändig verlegt.
"Ist ein Abschied für immer! Also von Deutschland ist ein Abschied für immer."
Gerhard Meyer. Mittelgroß, flinke Augen, graue Haare, grauer Schnauzer. Weißes Hemd, weiße Hose. 1999, in Berlin, bei der ersten Begegnung, trägt er eine bayerische Tracht. Meyer grinst.
"Doch, die habe ich noch. Also das ist alles noch da. Aber das bajuwarische werde ich mehr oder weniger nur noch als Folklore anlegen. Ich werde mir natürlich die Tiroler Tracht einkaufen, damit du dem Land verbunden bist."
Steinach liegt im Wipptal, Tirol liegt in Österreich, und Meyer lebt nun im "Hotel Post". Der ehemalige Besitzer von sechs Restaurants ist jetzt "Angestellter" bei seiner Tochter. Sagt aber immer noch "mein Hotel". Aus Gewohnheit und Stolz, und wegen des Geldes und der Arbeit, die von ihm da drinsteckt. Meyers Hand fährt durch Luft.
"Die Renovierung, die ganze Ausdekorierung - ist alles meins. Und das Allerlustigste ist, ich habe sogar noch was von Berlin da. Den Garderobenständer, den habe ich mal für den Ratskeller gekauft. Den fand ich so toll als Eisengestell, den hebe ich mir auf. Zwei Stück habe ich davon."
Seit drei Wochen ist die Tochter im Grundbuch als Besitzerin eingetragen, schiebt Meyer nach ... und dann eine Geschichte nach der anderen. Auch die von seinem Auftritt im Bayerischen Fernsehen. Ein Rateteam soll unter drei Kandidaten den echten Schnellen Meyer herausfinden. Meyer grinst wieder. Auf ihn tippte nur einer, ein falscher Meyer gewinnt.
"Auf den haben sie alle getippt. Der hat sehr stark gesächselt. Und da haben die gedacht, Osten ist alles Sachsen. Und wahrscheinlich haben sie deshalb so gemünzt. Ja, ja."
Terrasse
Meyer ist kurz ab in die Küche, holt Kaffee. Vor der Hotelterrasse hält der Gendarm einen Touristen aus Dänemark an. Ortsdurchfahrt mit Wohnwagen ist nicht gestattet.
In der Cafeteria gegenüber trinkt der vormalige Hotelbesitzer einen Kaffee. Seinem redlichen Bemühen um das Hotel folgt schnell der Verkauf des alten Familienbesitzes der Cammerlanders. Nun also im Familienbesitz der Meyers.
Laut Prospekt ist das Hotel "zweifellos das älteste Postamt Tirols". Früher "Anlaufstation der Postkutschen", heute Haltestation der Bustouristen - auf der Durchfahrt nach Süden. Und retour.
Steinach am Brenner, das Wipptal in Tirol, Meyer im "Hotel Post". Auf dem Hotel-Video im Internet läuft der Schnelle Meyer nach 1.15 sehr gemächlich durchs Bild. In einer Tracht. Die Hände in der Lederhosentasche. Er, der unruhige 59-Jährige, der immer was machen muss.
Suche
Meyer, der Schnelle Meyer, hockt in der Bar auf einer Sitzbank, spult und stoppt, spult weiter und stoppt wieder. Seine Tochter schaut zu.
Meyer: "Was?"
Tochter: "Was suchst du denn da?"
Meyer: "Da ist so ein Beitrag von einer Telefonreportage ist da."
Tochter: "So schön war er auch nicht."
Meyer: "Was?"
Tochter: "So schön war er auch nicht."
Meyer: "Ich will ihn ja auch bloß mal hören lassen. Aber das ist keen gutes ..."
Radio Tirol. 2005. Da ist Meyer ein Jahr hier. Und der Schnelle Meyer hilft etwas nach, dass es sich schnell herum spricht. Klappern gehört zum Handwerk, sagt er so nebenbei. Und lässt nicht locker, sucht weiter nach dem Interview-Mitschnitt.
Moderator: "... zwischen Rügen und dem Harzgebirge so ungefähr, so ganz ist das natürlich auch nicht ..."
Tochter: "Papa, nun lass es doch einfach! Du findest es doch eh nicht."
Meyer: "Doch, ich finde das."
Tochter: "Du hättest das vorher machen müssen. Das nervt."
Meyer: "Ich hab' das doch schon mal gemacht, aber dann war es weg."
Moderator: "... stellen wir ihnen gleich vor."
Tochter: "Kann einen Bus reparieren, aber so ein Ding nicht bedienen."
Moderator: "12 Uhr und 46 Minuten."
Meyer: "Das muss gleich weiterlaufen, das ist die Sendung."
Moderator: "... seit 15 Jahren jetzt wieder bei der BRD sind."
Irgendwann findet Meyer dann die Radio-Tirol-Interview-Stelle auf der CD. Die ist knapp 1.30 lang. Und den Moderator interessiert nur, was sich ein Tiroler unbedingt in Neu-Ostdeutschland anschauen soll.
Meyer zuckt mit den Schultern, schiebt die nächste CD ein.
Meyer "Na, Play."
Moderator: "Von der schnellen Götzschl geht es jetzt zum Schnellen Meyer. Erinnern Sie sich noch an die Bilder ..."
Meyer: "Auch 2005 war das."
Moderator: " ... 1989 die Grenze zu Ungarn aufgegangen ist und der Eiserne Vorhang zu fallen begann? Erinnern Sie sich noch an die Gesichter der Ostdeutschen, die jubelnd in die neue Freiheit gefahren sind?"
Fahrt der Erinnerung
Meyer kann diese Nacht nicht vergessen. Sie hat sein Leben verändert - die Nacht vom 10. zum 11. September 1989. Hunderte DDR-Bürger brechen von der ungarisch-österreichischen Grenze zur österreichisch-bundesdeutschen Grenze auf.
In der Poleposition – Meyer, der eine Vorliebe für schnelle Autos hat, spontan die Urlaubsroute ändert und damit die Biografie seiner Familie. 1989.
1999 fährt er noch einmal die Strecke der Rallye in die Freiheit ab. Diesmal ohne Fluchtauto, dafür im Mietwagen; ohne Blitzlichtgewitter, aber mit vielen Bildern vor Augen.
1999 also. Anfahrt zum ungarischen Grenzpunkt. Die letzten 20 Kilometer bis zur ungarisch-österreichischen Grenze, spricht Meyer nur noch von Ungarn und davon, was wird an der Grenze sein? Am Startpunkt der 89er DDR-Bürgerwettfahrt in die Bundesrepublik.
Grenzankunft
"Alles, alles, was zehn Jahre geruht hat, das knallt wie eine Explosion wieder hervor. Das Haus, die Zollstation – das klingelt wieder in den Ohren, obwohl wie es nur bei Nacht gesehen haben. Es war ja alles sehr hell erleuchtet gewesen hier. Ja, von hier aus ging es dann Richtung Deutschland."
Meyer zeigt Richtung Westen. Und Gefühle. Grenzübergang Sopron-Klingenbach. Für eine Nacht geht der Grenzbalken hoch. 1989. Ungarn-Österreich.
"Man kann den Leuten alle gar nicht genug danken. Wenn man das so alles sieht, was die damals so alles auf sich genommen haben, was die uns geholfen haben. Stellvertretend für alle hier müsste man einen richtigen Dankesschrei auswerfen. Aber na ja, ich glaube, das ist der Redakteur."
Ein Reporter vom ORF hat von der Tour der Erinnerung erfahren, möchte ein Interview. Für das Fernsehen. Meyer hat die Bilder im Kopf. Doch 1999 ist nicht 1989.
ORF: "Aber hier werden jetzt sehr viele Personen wieder zurück gewiesen. Die dürfen nicht einreisen."
Meyer: "Tja, das Nichteinreisen kann ich nicht beurteilen. Nur meine Überlegung ist dazu: Wenn es politisch Verfolgte sind, warum nicht, denen sollte man auf jeden Fall Asyl gewähren. Aber es kann dann natürlich nicht sein, dass die nach Deutschland kommen oder nach Österreich kommen oder weiß der Kuckuck wohin und wollen praktisch zum Beispiel nur aus niederen Instinkten das Land ausbeuten. Man liest ja heutzutage fast jeden Tag in der Zeitung: Der eine hat 200.000, der andere hat 50.000, der andere 300.000 Mark hat er das Sozialamt betrogen. Das darf nicht sein so etwas. Wir arbeiten ja dafür."
ORF: "Sie sind ja auch aus wirtschaftlichen Gründen unter anderem geflüchtet. Den anderen Leuten wollen Sie das nicht zubilligen?"
Ruhe vor dem Start
Meyer schläft. Den Autositz zurück geklappt, den Hut übers Gesicht geschoben. Letzte Ruhe vor dem Start. Jetzt, 1999. Vor zehn Jahren um diese Zeit - Aufregung, Anspannung, Freude. Bereit zur Ausreise, endlich.
Um 24 Uhr soll es losgehen, wie damals. Rund 400 Kilometer - die Entfernung ist so ziemlich das einzige, was sich nicht verändert über die Jahre.
Nachtfahrt
Endlich Mitternacht. Augen auf und Scheinwerfer an. Der Grenzübergang an der ungarisch-österreichischen Grenze.
"Und jetzt fahren wir."
Reporter: "Und lassen Ungarn hinter uns. Die Reise in die Erinnerung beginnt."
"Die Reise in die Erinnerung beginnt. Und jetzt fahren wir auf die Straße der sogenannten Freiheit. Wir haben Rot - wieso das?"
1999 ist nicht 1989. Eine österreichische Grenzbeamtin will den Kofferraum kontrollieren, Meyer muss aussteigen. Sein Hinweis auf die Erinnerungsfahrt und die Ankunft als Erster hilft nicht, er muss raus. Schengen-Abkommen, Außengrenze, keine freie Durchfahrt.
"Da merkste, dass ich Automatik fahre.”"
Der weiße Toyota, Kennzeichen ID 94-27, der Siegerwagen, verschwindet 1992 in der Schrottpresse.
" "Weil, er hatte nach zwei Jahren Deutschland einig nicht mehr die Erfordernisse erfüllt, die er hätte bringen müssen."
Ein historisches Stück auf dem Müllhaufen der Geschichte. Meyer zuckt mit den Schultern.
"Du sag mal, ich glaube, wir sind auf der verkehrten Straße durch diese Umleitung. Ich sehe kein Schild, wo es in Richtung Wiener Neustadt geht."
Verfahren. Wie damals in der Nacht vom 10. zum 11. September 1989.
"Sankt Pölten! Da sind wir schon auf der richtigen Straße, da können wir hier weiterfahren. Und von Sankt Pölten geht es dann ab in Richtung Linz."
Die Anspannung weicht wieder aus Meyer. Wie auf einem Wochenendtrip, wird Meyer später sagen.
Jetzt konzentriert er sich auf das Gespräch, ein offiziöser Tonfall schleicht sich ein.
"Wenn man so zurückdenkt, vor zehn Jahren ist man doch mit verklärten Blicken an die ganze Realität heran gegangen. Es war alles rosarot. Es war alles phantastisch. Heute die Realität sieht ganz anders aus. Politik ist einfach nur ein Kampf ums Geld."
Meyer drückt die Arme durch und ist trotzdem zufrieden mit der Wirklichkeit. Die Tachonadel pendelt sich bei 120 ein. Nun wird er mehrfach überholt. Diesmal also kein Rennen in die Freiheit wie vor zehn Jahren.
"Es ist mehr ein Abfahren einer Gedächtnisstrecke, die im Gedächtnis festgeschrieben ist. Und denn kommt die Erinnerung - das war der Weg."
Der Weg nach Deutschland. 1989 ist das für Meyer Westdeutschland. Und wofür steht Westdeutschland?
"Ja damals, muss ich dazu sagen, auch verklärt, für Freiheit, Reisemöglichkeiten, heute ist es die Normalität."
Die Normalität ist wie für Meyer geschaffen, er hat die nötige Portion Schlitzohrigkeit.
"Jetzt sind wir in Richtung Linz. Jetzt sehen wir schon die Silhouette von Haas in Linz. Wenn ich heute darüber nachdenke, Linz ist für mich heute eine Stadt in Österreich, aber damals war Linz eine Stadt, die näher an Deutschland dran lag."
Auch jetzt bleibt Linz ein Lichtschimmer, der schnell wieder verschwindet. Die Scheinwerfer fressen sich in das Dunkel der Nacht. Mit den Kilometern wechseln die Stichworte. Manche Geschichten wiederholen sich. Und manche Sprüche, die sich Meyer in den Jahren zurechtlegt – zwischen Bayern und Berlin.
"Tja, als ich von Ungarn nach Deutschland gekommen bin, da hatte ich vier Koffer dreckiger Wäsche und ein fünf Jahre altes Auto. Und als ich von Haßfurt-Sylbach nach Berlin übergesiedelt bin, da hatte ich fünf Koffer dreckige Wäsche und ein sechs Jahre altes Auto. Das war mein Start."
Meyer wird unruhig. Der Kilometerzähler hat die 400 Kilometer der Erinnerung bald runtergespult.
"Auf einmal waren da 30 Reporter! Der eine hopste auf das Auto. Jeder versuchte, Aufnahmen zu machen. Jeder wollte ein Interview haben. Ich wollte aber aussteigen. Ich konnte gar nicht aussteigen. Aber dann habe ich das so richtig bewusst erlebt, dass ich sagte: Man, ist das geil! Das war für mich denn so richtig wie Art Action war das gewesen."
Ohne Ausreiseantrag. Bin Geschäftsmann, kein Märtyrer, sagt Meyer. Ist nicht sein Ding.
"Heute haben ... Passau! Geradeaus! Siehste, jetzt geht's schon auf Passau geht's jetzt. Und jetzt geht's rechts nach Passau ab. Phantastisch. Irgendwie kriege ich da noch ein richtiges Kribbeln im Bauch. Das kann ein Außenstehender gar nicht nachvollziehen."
Meyer holt tief Luft, ruckelt im Sitz umher – wie um sich für den Zieleinlauf noch mal richtig in Position zu bringen.
"Ja, ich könnte mir gar nicht vorstellen, dass auf einmal 60 Reporter und Fernsehteams für mich, sich für mich interessieren. Für Meyer aus Ostdeutschland. Nur weil ich der Erste bin, der angekommen ist."
Die Bilder mit dem schnellen Meyer gehen um die Welt. Meyer, Sieger der Ungarn Open 89. Erster der Wettfahrt in die Freiheit in der Nacht vom 10. zum 11. September 1989. Als Ungarn für Tausende DDR-Bürger die Grenze in den Westen öffnet.
"Mensch, wir sind ja schon an der Grenze. Ist ja nur noch een Kilometer. Fantastisch. Ist alles ganz anders. Ruhig, keen Trubel wie damals. Keiner interessiert sich für uns."
Nicht mal ein Grenzbeamter lässt sich blicken. Von Reportern ganz zu schweigen.
"Wir brauchen nicht mehr anzuhalten, weil es keine Grenze mehr gibt. Oder doch?"
"Jetzt halten wir mal an und machen ein Foto, nich."
Grenzübergang Passau-Suben ein paar Stunden später. Bei Tageslicht. Gerhard Meyer will noch ein Erinnerungsfoto schießen - zehn Jahre nach seiner Ankunft im Westen.
"Damit Du die Fahne siehst und den Bundesadler."
Rechterhand schwarz-rot-goldene Fahne, in der Mitte Meyer, linkerhand Bundesadler ... und WC-Schild.
"Ist nicht gerade ne schöne Kulisse mit dem ollen Scheiß. Aber trotzdem, so sieht es halt heute aus."
Triste Betonkulisse. Eine Durchfahrtstation, die man schnell hinter sich lassen möchte. 1989, vor zehn Jahren, die Ziellinie für Meyer, den Sieger der Drei-Länder-Rallye.
"Ich gloobe, das interessiert nur noch ... nich mal einen Besoffenen mehr. Kein Mensch kann das nachvollziehen, was das für Schicksalsschläge gewesen sind für irgendwelche Leute, die alles aufgegeben haben. Heute normal. Ach, das war ja die damals von Drüben gewesen! Ja, die haben's ja nun ooch geschafft. Haben alle uff unsre Kosten gelebt. Das ist der Slang, den 'se heute wahrscheinlich am Stammtisch erzählen."
Das Foto
Die Fahrt der Erinnerung 1999 liegt nun auch schon wieder zehn Jahre zurück. 2009 bohrt sich Meyer im Blaumann in seine österreichische Zukunft, rackert und macht nun in "seinem" Hotel Post in Steinach am Brenner.
"Vorsicht, Staub. Das wird sozusagen die neue Dusch- und Nasszelle für das andere Zimmer. Abgedichtet habe ich es drüben, kannst mal schauen, wie ich das mache. Das wird Dusche und WC."
Einige Zimmer geben noch "Rüdesheimer Barock", dunkle Eiche. Meyer will da Tiroler Fichte einbauen, die Räume heller machen. Das wird, jetzt ist Pause angesagt für Erinnerungsfotos.
"Ph, ja, da müssten noch welche da sein. Aber in welchem Album die drin sind?"
Die Fotos von der Tour der Erinnerung 1999. Meyer schaut einen Moment etwas ratlos drein, dann sprudelt es aus ihm heraus.
"Da sind wir doch, wo wir in Passau waren, da waren wir doch die Einzigen an der Grenze. Nee, das endet hier."
Das Album - mit den Fotos vom Blitzlichtgewitter 1989. Und die Geschichte.
"Tja, das ist halt die Geschichte."
Von seinem "Wohnwechsel" 1989.
"Also ich muss immer dazu sagen, ich bin nie geflüchtet. Ich habe in der DDR nichts auszuhalten gehabt. Ich habe mein Einkommen gehabt, ich habe eine eigene Gastwirtschaft privat gehabt, ich habe einfach nur meinen Wohnwechsel gemacht. Und ich bin da, ich bin kein politischer Flüchtling. Den Gefallen wollte ich den Idioten sowieso nicht tun, da drei Jahre durch den Knast zu wandern, dass mich dann irgendeiner dann Freikaufen tut für solchen Scheiß. Und das war mir auch nicht das richtige."
Meyers Geschichte. Die vom Schnellen Meyer.
"Tja, so schnell schließt sich die Geschichte."
Weg von Deutschland.
"Ich werde auch nicht zurückfahren. Zu Besuch ja, aber alles in allem fühle mich jetzt hier sauwohl in Österreich."
Die Rallye in die Freiheit führt 1999 Meyer in die Bundesrepublik und endet 2004 in der anderen Bundesrepublik – in Österreich.
"Ja, Ironie des Schicksals, kann man dazu nur sagen."
Ach so, die aus seinem Zimmer im ungarischen Lager in Zanka sollen sich doch mal bitte bei ihm melden. Seine Adresse ist ja nun bekannt: Hotel Post, Steinach, Tirol, Österreich. Da, wo er schon wieder durchstartet.