Besuch beim längsten Theaterstück der Welt
"Ramlila" ist das berühmteste Theaterstück Indiens. Es dauert einen ganzen Monat und beruht auf einem Epos aus dem zweiten Jahrhundert. Ein Besuch in dem Ort, in dem das Schauspiel das erste Mal aufgeführt wurde.
Es ist kaum ein Durchkommen in Benares, der heiligen Stadt der Hindus am Ganges. Von allen Seiten strömt es auf den kleinen Platz in der Mitte der Stadt. Straßenhändler wollen noch in der letzten Minute Süßigkeiten verkaufen. Die Frauen habe ihre besten Saris an - gerade die armen. Tausende haben sich am Rande des Platzes oder auf den Dächern der Häuser in der Nachbarschaft aufgestellt. Sie sind gekommen, um das "Ramlila" zu sehen, das berühmteste Theaterstück Indiens. Ein heiliges Mammutdrama, das seit Jahrhunderten aufgeführt wird und einen Monat lang dauert, immer im Spätherbst des Jahres.
Unter großem Jubel und Getrommel sind zwei reich geschmückte Kutschen am Rand des Platzes erschienen. Auf ihnen sitzen zwei Darsteller. Die Schauspieler tragen Kronen und goldene Kleider. Ihre Gesichter sind maskenartig geschminkt. Sie sind Kinder. Die beiden betreten gemeinsam ein geschmücktes Podest und verneigen sich nach allen Seiten. Sie umarmen einander. Das alles vollzieht sich wortlos.
Mit der Umarmung der beiden gekrönten, goldgeschmückten Darsteller geht die farbige Geschichte ihrem Happy End zu. Wir befinden uns am 29. Tag von insgesamt 31 Tagen Theaterspektakel. Die Szene zeigt Rams Wiederbegegnung mit seinem Bruder, der während der Irrfahrten des Helden den Thron innegehabt hatte - und ihn jetzt bereitwillig räumt. Familie, Königreich und Weltordnung: alles kommt wieder ins Lot. Die Theaterwissenschaftlerin Anuradha Kapoor hat ein Buch über das Ramlila in Benares geschrieben. Sie erklärt die Bedeutung der Szene:
"Es ist eine Art Erziehung der Gefühle. Die Guten kommen zusammen und die Familie vereinigt sich. Es ist eine sehr beliebte Szene im 'Ramlila', denn mit ihr enden all die Schwierigkeiten."
Nur Kinder der höchsten indischen Kaste dürfen Götter spielen
Alle Darsteller sind Kinder von Brahmanen; sie gehören zur höchsten indischen Kaste. Nur sie gelten als rein genug, um Götter zu spielen. Vielleicht müsste man sogar sagen: rein genug, um Götter zu werden. Denn das unterscheidet das "Ramlila" von religiösem Theater im Westen, wie bei den Passionsspielen in Oberammergau: In Indien fließen Spiel und Wirklichkeit ineinander.
Anuradha Kapoor beschreibt das Wechselspiel von Menschlich und Göttlich: "Die Schauspieler werden manchmal mit den Göttern gleichgesetzt - und an anderen Stellen sind sie wieder einfach nur Schauspieler. Wenn sie Fehler machen, dann sind sie Spieler, aber wenn sie grossartig sind, dann sind sie zu Götter geworden. Dieses wunderbare doppelte Bewusstsein ist die ganze Zeit über da."
Am Rand des Platzes erscheinen vier prächtig aufgeputzte Elefanten. Die Reiter sehen aus, als kämen sie gerade aus der Requisite: goldbestickte Jacken, ausladender Schmuck, seidene Kopfbedeckungen. Diener fächeln ihnen mit malerischen Federbüschen Luft zu.
Aus der Menge erheben sich begeisterte Rufe: "Unser König", "unser König"; viele verbeugen sich. Der Maharadscha und sein Gefolge sind erschienen, um der Vereinigung der sagenhaften Brüder beizuwohnen. Die Allianz der Brüder symbolisiert Frieden, Einigkeit und gute Herrschaft. Wie im mittelalterlichen "Fürstenspiegel" wird den politischen Führern ein Musterbeispiel vorgeführt, wie sie das Land regieren sollen. Zwar haben die Maharadschas im heutigen, demokratischen Indien keine wirkliche Macht mehr. Aber hier, beim Ramlila, spielt der Fürst noch einmal eine Rolle - zwischen Mythos und Realität, wie die Darsteller. Anuradha Kapoor:
"Dasselbe doppelte Bewusstsein gilt auch für den Maharadscha. Er scheint der Herrscher von Benares zu sein, der aber keine Rechte mehr genießt, aber er ist auch der Herrscher, der in die Geschichte des Ramlilas eingreift. Beide Identitäten tragen einander gegenseitig."
Traditionell ist die weibliche Hauptfigur des "Ramlila" grenzenlos leidensfähig
Viele der Zuschauer auf dem Platz in Benares sind Zuschauerinnen: Die Aufführung findet am Nachmittag statt, wenn auch Frauen aus traditionellen, konservativen Familien ohne große Umstände das Haus verlassen können. Das Ramlila allerdings erzählt eine sehr männliche Geschichte. Sita, die Frau des Helden, verkörpert die patriarchalische Wunschvorstellung einer grenzenlos leidensfähigen, selbstlosen Gattin. Abhiliash Pillar, Regisseur und Professor für Dramaturgie an der National School of Drama, der zentralen indischen Theaterhochschule, sieht die Zeit für eine Umdeutung gekommen:
"Bei der ganzen Vergewaltigungskultur, die heute in Indien herrscht, muss das Ramayana aus dieser Perspektive angesehen werden, nicht mehr aus einem männlichen Blickwinkel. Unsere gesamten Legenden und Epen zielen auf eine männlich dominierte Gesellschaft. Nun ist es Zeit für eine neue Interpretation. Das Ramayana wurde immer wieder in verschiedenen Epochen aus verschiedenen Perspektiven betrachtet. In diesem Jahrhundert brauchen wir einen komplett neuen Zugang, eine zweite Renaissance des Ramlila und des Ramayana. Und zwar jetzt."
In Benares aber ist es Ram, der sich in der Schlussszene krönen lässt. Sita ist wie seit Jahrhunderten - einfach nur Staffage.