Ramy Youssef: "Die Anerkennung von Grenzen. Eine Soziologie der Diplomatie"
Campus Verlag, 2020
492 Seiten, 45 Euro
Strategien einer erfolgreichen Diplomatie
06:04 Minuten
Sie verhandeln nächtelang und bringen unterschiedlichste Interessen unter einen Hut: die Diplomaten. Doch wie funktioniert das diplomatische Parkett eigentlich? Der Soziologe Ramy Youssef analysiert es in der Monografie "Die Anerkennung von Grenzen".
Im Alltag erwarten wir von bestimmten Kontexten jeweils bestimmte Leistungen: Regierungen sollen regieren und Wissenschaftler sollen Wahrheiten produzieren. Dass wir dies so sicher erwarten können, liegt daran, dass hinter diesen Kontexten jeweils mächtige Kommunikationsstrukturen stecken, die Politik oder Wissenschaft als erkennbar unterschiedliche Perspektiven stabilisieren.
Dieser Blick auf Kommunikationsstrukturen stammt vom Systemtheoretiker Niklas Luhmann, der sich dafür interessiert, wie wir im Alltag sehr schnell feststellen können, wenn der nächste Satz, die nächste Handlung den Kontext wechselt.
Aber woher kommt es, dass wir auf eine solche Vielfalt an unterschiedlichen Kommunikationsstrukturen zurückgreifen können? Exakt das untersucht Ramy Youssef am Beispiel der Diplomatie.
Beide Seiten müssen Ergebnisse als Erfolg verbuchen können
Als abstraktes Merkmal innerhalb dieses hoch spezialisierten Kontextes der Diplomatie versteht Youssef die Art und Weise, wie zwei Kollektive so aufeinander bezogen werden, dass sie im Konfliktfall ein gemeinsames Problem mit Ambivalenz aufladen können. Der kleinste gemeinsame Nenner ist dabei – siehe Buchtitel – die "Anerkennung von Grenzen" dieser Gruppen.
Berufsmäßige Diplomaten behandeln sich jeweils als Vertreter eines souveränen Staates und signalisieren damit, dass außer dieser Bedingung zunächst nichts vorausgesetzt wird. So entsteht ein Spielraum für Lösungen.
Dabei darf die Verhandlungssituation nicht so eng geführt werden, dass man dem jeweiligen Gegenüber seine Interessen schon an der Nasenspitze, am Namen oder sonstigen Merkmalen ansieht. Und das, obwohl alle Beteiligten wissen, dass sie jeweils ziemlich konkrete Interessen haben!
Dabei darf die Verhandlungssituation nicht so eng geführt werden, dass man dem jeweiligen Gegenüber seine Interessen schon an der Nasenspitze, am Namen oder sonstigen Merkmalen ansieht. Und das, obwohl alle Beteiligten wissen, dass sie jeweils ziemlich konkrete Interessen haben!
Youssef betont, es gehe hier vor allem um Zurechnung: Beide Seiten müssen sich das Ergebnis der Verhandlung selbst zurechnen können, um sich und dann im Weiteren die Regierungen der jeweiligen Länder an die Ergebnisse der Verhandlung binden zu können.
Schwieriges Soziologendeutsch, aber konkrete Beispiele
Im etwas schwierigen Soziologendeutsch zeigt sich die Ambivalenz der Diplomatie darin, "ob Verhalten in Face-to-face-Interaktionen auf Mitteilungsabsichten zurückzuführen ist oder nicht. Aus der Differenz zwischen Kommunikation und Wahrnehmung ergeben sich wiederum diplomatische Ermessens- und Verhandlungsspielräume, die darauf beruhen, dass man die Wahrnehmung von Gesandten durch Kommunikation weder rekonstruieren noch programmieren kann."
Soll heißen: Regelmäßig besteht die konkrete Situation der Diplomatie aus direkter Interaktion, deren Ablauf nicht vorhergesehen werden kann. Diplomaten wollen ihren Gesprächspartner sehen, während sie entscheiden, welche Informationen sie preisgeben wollen. Sie schaffen dabei Vertraulichkeit, weil sie jemandem Geheimnisse anvertrauen. Aber dieses Vertrauen entsteht auf der Grundlage beruflicher Qualifikation und nicht als Resultat einer persönlichen Nähe.
Verhandlungsweisen früherer Gesellschaften
Youssef erläutert in ausführlichen Kapiteln zum Teil sehr abstrakt, aber dann doch immer wieder auf konkrete Beispiele bezogen, wie sehr diplomatische Verhandlungen in vormodernen Gesellschaften an die Erwartung gebunden waren, dass man demjenigen, mit dem man verhandelt, eigentlich nicht vertrauen kann – weil er ein Fremder ist! Im Blick auf diese frühen Gesellschaften sieht man, wie sich dieses Problem der Fremdheit des Anderen auflöst, wenn in Hochkulturen nach und nach der Umgang mit unpersönlichen schriftlichen Dokumenten eingeübt wird, deren Geltung aber immer noch im persönlichen Schwur aller Beteiligten abgesichert werden muss.
Aus der Perspektive unserer modernen Gesellschaft würde man sagen, dass diesen früheren Gesellschaften die Massenmedien fehlen. Massenmedien versetzen uns heute in die Lage, uns über jeden Ort der Weltgesellschaft zu informieren. Dabei gewöhnen wir uns daran, dass wir denjenigen, der uns informiert, der den Zeitungsartikel geschrieben hat, der den Film gedreht hat, der den Radiobeitrag vorbereitet hat, nicht persönlich kennen: Die Fremdheit des Anderen ist uns vertraut geworden.
Der Vorteil ein Diplomat und Funktionsträger zu sein
Vor diesem Hintergrund gewinnt die Vertrautheit der Diplomaten mit ihresgleichen ihre Funktionalität: Diplomaten werden in irgendein Land auf dieser Welt geschickt, und sie können in einer ausweglosen Situation gerade deshalb verhandeln, weil sie selbst als Personen dabei so weit in den Hintergrund treten, dass ihre eigenen Interessen nicht mit ihrer Person identifiziert werden: Als Fremde können sie persönlich verhandeln. Das klingt paradox, markiert aber das Erfolgsgeheimnis.
Wer das verstanden hat, kann die moderne Gesellschaft besser verstehen. Und wer seine diplomatischen Fähigkeiten selbst etwas ausbauen möchte, kann auch ein bisschen von diesem Buch profitieren.