Ran an die Wirklichkeit, raus aus dem Theater!
Friedland ist weltbekannt. Über vier Millionen Menschen hat das Grenzdurchgangslager seit 1945 aufgenommen. Friedland liegt bei Göttingen. Das Deutsche Theater Göttingen hat jetzt zusammen mit dem Freien Theater "werkgruppe 2" sich des Lagers und seiner Geschichten angenommen.
Ran an die Wirklichkeit, raus aus dem Theater! Das sagen sich zur Zeit viele junge Bühnenleute. Julia Roesler und ihr Ensemble sind an Göttingens Peripherie gezogen und realisieren ihre szenische Installation "Friedland" in einer Saline.
Die junge, sympathische und zupackende Regisseurin nennt zwei Gründe:
"Wir arbeiten viel mit Interaktion und die Zuschauer sind gefordert, sich zu bewegen. Das ist bei einem klassischen Theatersaal schwer möglich. Es ist einfach so, dass das alte Magazin in der Saline den Friedland-Lagerbaracken ähnelt, die am Anfang benutzt wurden. 1945 bis 1950 waren das ja alte Stallungen, in denen die Menschen untergekommen sind. Der Scheunencharakter dieses Gebäudes erinnert daran."
Friedland ist weltbekannt. Über vier Millionen Menschen hat das Grenzdurchgangslager seit 1945 aufgenommen. Friedland liegt bei Göttingen. Das Deutsche Theater Göttingen hat jetzt zusammen mit dem Freien Theater "werkgruppe 2" sich des Lagers angenommen.
Wenn das alte Scheunentor rumpelnd und quietschend geöffnet wird, stellen wir Zuschauer uns gewissermaßen automatisch an. Einer ruft belustigt: "In Zweierreihen!" - Dann werden wir abgefertigt: Namen nennen, Stempel, Laufzettel, weiter.
Dann muss man warten. Die Scheune wirkt wie ein Stall. Schreit da nicht ein Baby? Wir dürfen nicht drauf reinfallen, dass das alles Wirklichkeit ist. Das ist Kunst, wir sind mitten in einer Installation, ja, ein Teil davon, jeder eingespielte Ton ist aufs sorgfältigste ausgewählt und hat eine Bedeutung. Ein Stall, ein Neugeborenes, da war doch was? Es war kein Raum in der Herberge. Was du dem Geringsten meiner Brüder getan hast, das hast du mir getan.
Niemand hat Zeit zum Nachdenken. Eine nette, aber etwas betuliche Frau will uns Deutsch beibringen. Ich bekomme einen Fragebogen. Er ist authentisch. Wer eingebürgert werden will, muss ihn beantworten. Warum gibt es die fünf Prozent-Hürde? - Weiter. Jeder muss zum Arzt: "Ham Se Fieber? Nichts? Gut. Wenn Se bitte im Wartebereich B Platz nehmen würden."
Im Wartebereich B bittet ein britischer Offizier zum Verhör: "Sie haben sich also nicht politisch unterdrückt gefühlt? (Werbend:)Wir wollen hier nur Ihr Bestes. (Latent drohend:) Wenn Sie nicht mit mir reden, kann ich Ihnen nicht helfen. (Drängend, will mir was in den Mund legen:) Sie sind also politisch verfolgt worden?!" - Wer keine Auskunft gibt, bekommt Schwierigkeiten. Nicht nur die da drüben hatten Geheimdienste.
Der zweite Teil umfasst die erste Nacht im Lager. Riesenschlafsaal, dreistöckige Betten. Nachdem das Licht erloschen ist, kommen die Erinnerungen. Geschichten werden wach. Am schrecklichsten sind die Erinnerungen an die Flucht vor der siegreichen Roten Armee. Aber auch Aussiedler aus Russland kamen hier an, Flüchtlinge aus Vietnam. Die sah man lieber als die aus Chile. Wir sind in einer kritischen Inszenierung - Engherzigkeit und Antikommunismus kommen an den Pranger, wo sie hingehören. Humanität gibt es bei uns nicht zum Nulltarif. Die Politik ist immer dabei. Ich bin Niedersachse. Ich kenne das, diese christliche Sparsamkeit, diesen bornierten Protestantismus, ein kräftiger Schuss tüchtiger Egoismus, ein ganz klein bisschen Nächstenliebe. Eigentlich aus Berechnung. Nach dem Tod, man weiß ja nie ... Genau so ist es, das evoziert die Installation. In ihren Mitteln ist sie reich, vielleicht ein bisschen zu viel Material, vor allem akustisches. Ein geradezu opulentes Hörspiel.
Im dritten Teil noch mehr Politik, vor allem Gegenwart. Dann gibt's Schmalzstullen und Lieder aus der alten, verlorenen Heimat. Und "Maikäfer flieg!" Dein Vater ist im Krieg? Pommernland ist abgebrannt?
Nie wieder Krieg. Aber wir sind ja schon wieder mittendrin. Die Installation mahnt: Nicht vergessen! "Friedland" heißt das Stück, Land des Friedens. Friedland, in des Wortes verwegenster Bedeutung. Ein junges, leistungsstarkes Ensemble. Überragend. Eine lange Anreise lohnt sich. Besser, als so manche documenta.
Die junge, sympathische und zupackende Regisseurin nennt zwei Gründe:
"Wir arbeiten viel mit Interaktion und die Zuschauer sind gefordert, sich zu bewegen. Das ist bei einem klassischen Theatersaal schwer möglich. Es ist einfach so, dass das alte Magazin in der Saline den Friedland-Lagerbaracken ähnelt, die am Anfang benutzt wurden. 1945 bis 1950 waren das ja alte Stallungen, in denen die Menschen untergekommen sind. Der Scheunencharakter dieses Gebäudes erinnert daran."
Friedland ist weltbekannt. Über vier Millionen Menschen hat das Grenzdurchgangslager seit 1945 aufgenommen. Friedland liegt bei Göttingen. Das Deutsche Theater Göttingen hat jetzt zusammen mit dem Freien Theater "werkgruppe 2" sich des Lagers angenommen.
Wenn das alte Scheunentor rumpelnd und quietschend geöffnet wird, stellen wir Zuschauer uns gewissermaßen automatisch an. Einer ruft belustigt: "In Zweierreihen!" - Dann werden wir abgefertigt: Namen nennen, Stempel, Laufzettel, weiter.
Dann muss man warten. Die Scheune wirkt wie ein Stall. Schreit da nicht ein Baby? Wir dürfen nicht drauf reinfallen, dass das alles Wirklichkeit ist. Das ist Kunst, wir sind mitten in einer Installation, ja, ein Teil davon, jeder eingespielte Ton ist aufs sorgfältigste ausgewählt und hat eine Bedeutung. Ein Stall, ein Neugeborenes, da war doch was? Es war kein Raum in der Herberge. Was du dem Geringsten meiner Brüder getan hast, das hast du mir getan.
Niemand hat Zeit zum Nachdenken. Eine nette, aber etwas betuliche Frau will uns Deutsch beibringen. Ich bekomme einen Fragebogen. Er ist authentisch. Wer eingebürgert werden will, muss ihn beantworten. Warum gibt es die fünf Prozent-Hürde? - Weiter. Jeder muss zum Arzt: "Ham Se Fieber? Nichts? Gut. Wenn Se bitte im Wartebereich B Platz nehmen würden."
Im Wartebereich B bittet ein britischer Offizier zum Verhör: "Sie haben sich also nicht politisch unterdrückt gefühlt? (Werbend:)Wir wollen hier nur Ihr Bestes. (Latent drohend:) Wenn Sie nicht mit mir reden, kann ich Ihnen nicht helfen. (Drängend, will mir was in den Mund legen:) Sie sind also politisch verfolgt worden?!" - Wer keine Auskunft gibt, bekommt Schwierigkeiten. Nicht nur die da drüben hatten Geheimdienste.
Der zweite Teil umfasst die erste Nacht im Lager. Riesenschlafsaal, dreistöckige Betten. Nachdem das Licht erloschen ist, kommen die Erinnerungen. Geschichten werden wach. Am schrecklichsten sind die Erinnerungen an die Flucht vor der siegreichen Roten Armee. Aber auch Aussiedler aus Russland kamen hier an, Flüchtlinge aus Vietnam. Die sah man lieber als die aus Chile. Wir sind in einer kritischen Inszenierung - Engherzigkeit und Antikommunismus kommen an den Pranger, wo sie hingehören. Humanität gibt es bei uns nicht zum Nulltarif. Die Politik ist immer dabei. Ich bin Niedersachse. Ich kenne das, diese christliche Sparsamkeit, diesen bornierten Protestantismus, ein kräftiger Schuss tüchtiger Egoismus, ein ganz klein bisschen Nächstenliebe. Eigentlich aus Berechnung. Nach dem Tod, man weiß ja nie ... Genau so ist es, das evoziert die Installation. In ihren Mitteln ist sie reich, vielleicht ein bisschen zu viel Material, vor allem akustisches. Ein geradezu opulentes Hörspiel.
Im dritten Teil noch mehr Politik, vor allem Gegenwart. Dann gibt's Schmalzstullen und Lieder aus der alten, verlorenen Heimat. Und "Maikäfer flieg!" Dein Vater ist im Krieg? Pommernland ist abgebrannt?
Nie wieder Krieg. Aber wir sind ja schon wieder mittendrin. Die Installation mahnt: Nicht vergessen! "Friedland" heißt das Stück, Land des Friedens. Friedland, in des Wortes verwegenster Bedeutung. Ein junges, leistungsstarkes Ensemble. Überragend. Eine lange Anreise lohnt sich. Besser, als so manche documenta.