Raphaël Glucksmann: "Die Politik sind wir! Gegen den Egoismus, für einen neuen Gesellschaftsvertrag"
Aus dem Französischen von Stephanie Singh
Hanser, München 2019
191 Seiten, 18 Euro
Der Feind ist klar, die Ziele nicht
06:32 Minuten
Bereits im vergangenen Oktober auf Französisch erschienen, wirkt Raphaël Glucksmanns "Die Politik sind wir!" wie eine Vorlage für die wütenden Gelbwesten. Der Philosoph kritisiert das Primat der Ökonomie, bleibt aber bei Handlungsvorschlägen reichlich unkonkret.
"Die Politik sind wir!" ist ein Appell für mehr Miteinander und gegen die Vereinzelung. Kapitalismus und Liberalismus hätten die Menschen zwar wohlhabender, dabei aber auch unglücklicher und einsamer gemacht.
Früher gaben Kollektive wie Gewerkschaften den Arbeitern eine Heimat, schreibt Raphaël Glucksmann. Ohne eine solche Bindung seien viele Franzosen zu haltlosen Egoisten geworden, die sich vor Veränderung fürchten und letztlich (rechts-)radikale Parteien wählen.
Die Sozialisten haben die Arbeiter nicht im Blick
Der neue Hoffnungsträger der Linken wirft den französischen Sozialisten vor, dass sie sich in den vergangenen Jahrzehnten allzu sehr für die Rechte von Minderheiten eingesetzt und dadurch das Kollektiv der Arbeiter verloren hätten. Er zitiert einen Politiker des "Parti socialiste" mit den Worten: "Unser wahres Problem ist, dass wir uns auf unseren Sitzungen zwei Stunden lang über Leihmutterschaft streiten, den Mindestlohn aber in fünf Minuten abhandeln."
Sein Buch ist bereits im vergangenen Oktober auf Französisch erschienen, zu einem Zeitpunkt, als die Gilets jaunes, die Gelbwesten, noch nicht zum Protestsymbol geworden waren. Zahlreiche Forderungen in diesem Buch wirken jedoch wie eine Vorlage dafür.
Volksentscheide für mehr Demokratie
Ausgiebig kritisiert der Autor die Privatisierung der Städte, den Verlust des öffentlichen Raums zugunsten von Investoren. Der Rückzug des Staates aus der Infrastruktur müsse gestoppt und die Gesellschaft insgesamt wieder "politischer" werden. Bürger sollten sich in lokalen Gremien mit allen aktuellen Fragen, die die Gemeinschaft betreffen, auseinandersetzen.
Glucksmann fordert Referenden, damit die Bevölkerung "die Kontrolle wiedergewinnt". Es ist bemerkenswert, dass er in diesem Zusammenhang die AfD und andere populistische Gruppierungen wie die Brexiteers mehr oder weniger dafür lobt, dass sie diese Formulierung eingeführt haben.
Der Feind ist die Wirtschaft
Natürlich will er den Begriff anders verstanden wissen. Aber der Hauptfeind steht für Glucksmann nicht rechts – sein Feind ist die Ökonomie. Der Staat müsse wieder das Primat gegenüber der oligarchisch strukturierten Wirtschaft bekommen.
Der 1979 geborene Journalist geht davon aus, dass wir heute vor allem von "Experten" wie Juristen und Ökonomen regiert werden, die zwar vermeintlich vernünftige Entscheidungen treffen, aber nicht vom Volk legitimiert sind. Er schließt sich der wohlbekannten Kritik an den Technokraten und Lobbyisten in Brüssel an, genauso wie er Staatspräsident Emmanuel Macron wegen seiner vermeintlich (neo-)liberalen Politik angreift. Mit dem zwei Jahre älteren Macron teilt er übrigens Herkunft und Ausbildung, beide besuchten dieselben Eliteschulen.
Der Klimawandel nimmt einen breiten Raum ein in diesem Band. Glucksmann fordert auch hier ein schnelles Handeln der Politik – um gegen die Interessen der Industrie vorzugehen. Mit welchen Maßnahmen er das erreichen will, bleibt jedoch erstaunlich vage.
Ohne europäische Perspektive
Abgesehen vom Brüssel-Bashing fehlt dem Buch auch jede europäische Perspektive – von einer internationalen ganz abgesehen. Der Begriff "Globalisierung" taucht auf den knapp 200 Seiten so gut wie nicht auf.
Für die Frage, wie er Einigkeit zwischen den EU-Mitgliedsländern herstellen will, gerade etwa um effektiv gegen die Klimakrise anzukämpfen, interessiert er sich ebenso wenig wie für den Gründungsgedanken Europas, die Schaffung einer Friedenszone auf dem Kontinent.
Und welche Art des Wirtschaftens denn soziale Ungleichheit und Umweltverschmutzung vermeiden und gleichzeitig Wohlstand sichern könnte, bleibt ebenso im Dunklen.
Intellektuelle Schärfe fehlt
Der Text liefert einige kluge analytische Gedanken zu Gegenwart. Er scheitert jedoch am Konkreten. Wer sich noch an Stéphane Hessels berühmtes Essay "Empört Euch!" erinnert, der wird in "Die Politik sind wir!" trotz des auch hier verwendeten Ausrufezeichens die stilistische und intellektuelle Schärfe vermissen.
Für einen Kandidaten zur Europawahl, der eine am Boden liegende politische Bewegung wiederbeleben möchte, bleibt er erstaunlich wolkig. Und im Vergleich zu Kevin Kühnerts kühnen Verstaatlichungsthesen wirkt Raphaël Glucksmann fast ein bisschen brav.